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Geschlecht und Gender: Ordnung im Begriffsdschungel

In unserer Sprachwelt wirbeln die Begriffe Geschlecht und Gender durcheinander. Häufig sind sie Anlass, für eskalierende Debatten. Zuletzt verhängte der DfB eine Strafe von 18.000 Euro an den FC Leverkusen, weil seine Fans in Bremen ein Banner hochhielten: „Der Zitronenmann sagt: Es gibt viele Musikrichtungen, aber nur zwei Geschlechter.“ Das löste bei manchen Zustimmung aus, bei anderen nur Kopfschütteln und Irritation. Zeit, das begriffliche Wirrwarr zu ordnen, bei dem auch dem DfB offensichtlich der Durchblick fehlt.

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Das Geschlecht: ein Wort, mehrere Bedeutungen, viel Streit

Der Begriff Geschlecht hat seit jeher viele Bedeutungen und die meiste Zeit meines Lebens existierten sie friedlich nebeneinander. Der Duden unterscheidet vier Bedeutungen, die er in weitere Untergruppen unterteilt: Geschlecht bezogen auf Mann und Frau, auf das Geschlechtsorgan, die Gattung/Sippe oder auf das Genus. Aus dem Kontext erschloss sich, was gemeint war.

Vor wenigen Jahren ging der Streit häufig darum, dass das grammatikalische Geschlecht (Genus) und das biologische Geschlecht (Sexus) nicht das Gleiche sind. Ich habe in vielen Gesprächen und Online-Diskursen erklärt, dass sie natürlich nicht das Gleiche sind, es aber bei Personenbezeichnungen eine enge Bindung gibt: die Mutter, Tochter, Oma, Zofe, Königin, Bäuerin oder Magd. Der Vater, Sohn, Opa, Diener, Bauer oder Knecht.

Die Sprachgewohnheit, nur Männer zu benennen und Frauen mitzumeinen, macht Frauen in der Sprache unsichtbar. Das hat Folgen: Frauen werden nicht mitgedacht und beim Tun vergessen. Caroline Criado-Perez und Rebekka Endler liefern in ihren Büchern zahlreiche Beispiele aus verschiedenen Lebensbereichen.

Heute geht der Streit beim Geschlecht eher um Gender, Identität und wie viele Geschlechter es denn nun gibt. Ebenso wird gestritten, wer als Mann oder Frau und wer als nicht-binär oder mit anderen Begriffen anzuerkennen ist. Es wird also über die Definition der Begriffskategorien Mann, Frau, Geschlecht gestritten.

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Über den Streit zur Zahl der Geschlechter habe ich bereits einen Blogartikel geschrieben. Es ist ein bisschen so, als ob wir darüber streiten, ob eine Bank eine Sitzgelegenheit oder ein Geldhaus ist. Auch beim Geschlecht kommt es darauf an, was gemeint ist: das Fortpflanzungsgeschlecht, der rechtliche Geschlechtseintrag, sozialisierte Genderrollen und Geschlechterstereotype oder Genderidentitäten.

Heute schreibe ich über den Streit zu den Begriffsdefinitionen. Und warum der so eskaliert. Weil er relevant für unseren Alltag ist. Wir alle haben ein Geschlecht und wir kommen quasi jeden Tag damit in Berührung, mit unserem und dem der anderen. Unsere Welt ist an vielen Stellen nach Geschlecht organisiert, in den Kategorien Mann und Frau. Rechtlich haben wir zwar die weiteren Kategorien „divers“ und „kein Eintrag“, in den Räumen unseres Alltags finden sie bisher aber kaum statt.

Traditionell gibt es in öffentlichen Einrichtungen Klos, Umkleiden, Duschräume für Männer und Frauen. Babys werden bis heute im Kreissaal nach einem Blick zwischen die Beine in Mädchen und Jungs eingeteilt.

Für mich eher nervig, aber trotzdem üblich: Klamotten, Schuhe, Socken werden getrennt für Männer und für Frauen angeboten. Nervig für mich deshalb, weil mir die Designs für Männer oft besser gefallen, mir aber nicht passen, weil ich einen weiblichen Körper habe: Schuhgröße 38/39, feminines Becken, Busen. Auch der DfB hat nur Trikots für Männer/Jungs und für Frauen/Mädchen. Wo sind also die weiteren Geschlechter in den Teams und Trikots repräsentiert? Und was meint der DfB mit dem Wort „Geschlecht“?

Die biologische Kategorie von Geschlecht

Sportwettbewerbe werden in der Regel in Männer und Frauen getrennt ausgetragen. Ausnahmen sind Sportarten wie Reiten oder Schießen, bei denen das Körpergeschlecht keine Rolle spielt. Hauptgrund: Die männliche Pubertät führt dazu, dass sich Körpergröße, Skelett, Muskel-Fett-Verteilung und Kraft zwischen Männern und Frauen signifikant unterscheiden.

Deutsche Männer sind durchschnittlich 1,80 Meter, Frauen 1,66 Meter. In Spanien sind Männer durchschnittlich 1,76 Meter, Frauen 1,62 Meter. In Bangladesh sind Männer zwar nur 1,65 Meter, Frauen aber auch nur 1,52 Meter (Länderdaten.info).

Männer verfügen insbesondere im Oberkörper über erheblich mehr Muskelmasse als Frauen, haben größere Lungen und geringen Fettanteil im Körper. Manche dieser Unterschiede verkleinern sich durch eine medizinische Transition, andere bleiben. Christine Hutterer hat für die Zeitschrift Sportmedizin einige der bekannten Unterschiede je nach Sportart herausgearbeitet.

Wenn Forscher*innen heute ein Skelett ausgraben, erkennen sie unter anderem am Becken, ob es sich um ein männliches oder weibliches Skelett handelt. Das unterschiedliche Skelett ist mitverantwortlich dafür, dass sich körperliche Frauen (inklusive Transmänner) bei Kontaktsportarten leichter Kreuzbandrisse zuziehen.

In unserem Alltag erkennen wir das biologische Geschlecht in der Regel anhand einer Mischung unterschiedlicher Körpermerkmale, die nicht alle gleichzeitig vorliegen müssen, aber in der Summe unserem Hirn die Information

„Mann“ oder „Frau“,
„man“ oder „woman“,
„hombre“ oder „mujer“,
„homme“ oder „femme“,
„Adam“ oder „Kadin“
„rajul“ oder „aimra’a“

oder welche Bezeichnung eine Sprache dafür hat, liefern.

Begegnen wir Menschen, die androgyn aussehen, wir also nicht sofort erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, fängt bei vielen das Gehirn an, genau darüber nachzudenken: Ist das ein Mann oder eine Frau?

Warum ist das so? Ich vermute, es ist von der Evolution gewollt. Denn es hat einen praktischen Vorteil: Es wäre bei der Arterhaltung, also der Grund, warum es überhaupt zwei biologische Geschlechter gibt, ziemlich hinderlich, stets durch Trial und Error probieren zu müssen, ob das eine Lebewesen Eizellen und Gebärmutter, das andere Spermien hat. Und natürlich ist Fortpflanzung nicht alles, aber ohne sie sterben wir aus.

Biologisches Geschlecht und geschlechtliche Vielfalt

In der Biologie bezieht sich der Begriff Geschlecht also auf die Art der Fortpflanzung und die Rolle dabei. Unterschieden werden die ungeschlechtliche, eingeschlechtliche und die zweigeschlechtliche Fortpflanzung. Bei Pflanzen und Tieren (Menschen inklusive), die sich zweigeschlechtlich fortpflanzen, werden die mit den Eizellen weiblich und die mit den Spermien männlich genannt. Bei Pflanzen heißt es Stempel, wo die weiblichen Geschlechtsorgane sitzen und Pollen für die männlichen Samen, die verteilt werden.

Auf der Ebene unseres alltäglichen Lebens, der sozialen Wirklichkeit und der rechtlichen Kategorien, in denen wir unsere Gesellschaft organisieren, ist das Bild jedoch komplexer und vielfältiger.

  1. Es gibt Menschen, deren Körper Varianten der Geschlechtsentwicklung aufweisen (Differences of Sexual Development, DSD). Manche DSD-Varianten haben Merkmale von beiden Geschlechtern (intergeschlechtlich).
  2. Es gibt Personen, die eine starke Geschlechtsdysphorie empfinden und ihre Körper möglichst so anpassen, dass sie in dem Geschlecht leben können und gelesen werden, das ihrer Geschlechtsidentität entspricht (transsexuell).
  3. Unsere Welt ist voller Geschlechterstereotype, also voll von kulturellen Vorstellungen und Erwartungen, die zwar ungeschlechtlich sind, aber durch kulturelle Zuweisung vergeschlechtlicht werden, etwa der Kleidungsstil, Charakterzüge, Hobbys, Kompetenzen, Rollenverhalten.

Wenn dir die Begriffe trans, inter, nicht-binär, divers, queer nicht geläufig sind, in diesem Blogartikel erkläre ich sie und stelle einige Formen von Intergeschlechtlichkeit vor.

Was bedeutet Gender im Unterschied zu Geschlecht?

Diese kulturell geprägten Geschlechtervorstellungen führen zu dem Begriff Gender. Er verweist auf den sozialisierten Anteil unseres Geschlechter-Begriffs, unserer Vorstellungen von und Ewartungen an Geschlecht. Das meinte Simone de Beauvoir, als sie schrieb: „Eine Frau entsteht.“ Gleiches gilt natürlich für den Mann. Da wir schon Babys unterschiedlich behandeln, je nachdem, ob wir sie als Junge oder Mädchen verstehen, entwickeln sich ihre Gehirne aufgrund unterschiedlicher Umwelteinflüsse. So werden Mädchen eher gerüffelt, wenn sie wild und laut sind und ständig wird ihre Schönheit betont. Jungs erfahren häufiger Zurückweisung, wenn sie weinen und ihre Helden sind stark und mächtig.

Diese Bilder werden den Kindern überall vermittelt: in Büchern, im Kinderfernsehen, bei den Spielsachen, der Werbung. Das heißt: Auch wenn das persönliche Umfeld sehr emanzipiert ist und nicht geschlechtersterotyp lebt, die Umwelt ist es oft doch. Das bedeutet: Egal, ob ein Kind eher ein Wildfang ist oder still und zurückhaltend, es wird in Richtung einer erwarteten Geschlechtervorstellung sozialisiert. Und wenn das nicht zum inneren Wesenskern des Kindes passt, erzeugt das Stress.

Willkür und Vermischung der Begriffe Geschlecht und Gender

Erschwerend kommt hinzu, dass wir in der Vergangenheit recht achtlos mit den Wörtern Geschlecht und Gender umgegangen sind. So werden sie teilweise synonym verwendet. Das Wort Gender wird überall benutzt, wo es um Geschlechterunterschiede geht, egal ob sie kulturell verursacht sind oder evolutionär bedingt werden.

Wird der Begrif Gender verwendet, kann das in widersprüchliche Richtungen weisen. Während Gender Mainstreaming die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Sinne gleicher Chancen für alle verkleinern will, betont Gendermarketing Geschlechterstereotype in rosa und hellblau. Fachbereiche wie Gendermedizin berücksichtigen biologische und sozialisierte Geschlechterunterschiede im Hinblick auf Gesundheitsrisiken, Symptomatik und Therapien.

Das Problem dabei ist, dass wir die Einflüsse aus Natur und Kultur nur begrenzt trennen können. Pierre Bourdieu beschreibt diese Verquickungen in die „Die männliche Herrschaft“. Der Primatenforscher Frans de Waal befasst in seinem Buch „Der Unterschied. Was wir von Primaten über Gender lernen können“ mit der Frage, wie wir herausfinden können, was evolutionär bedingt ist und was kulturell erlernt.

In diesen alten Streit zu Natur und Kultur und zu den begrifflichen Vieldeutigkeiten gesellt sich nun eine These, die für noch mehr Durcheinander sorgt: die Queer-Theorie.

Was bedeutet Queer? Was ist die Queer-Theorie?

Der Begriff queer bedeutet in der heutigen Verwendung dreierlei. Und das macht ihn ganz schön kompliziert.

  1. Zum einen dient „queer“ als Oberbegriff für alle, die unter LGBTIQA+ fallen.
  2. Zum zweiten verwenden ihn Menschen, die sich weder als trans noch als homo- oder bisexuell begreifen, aber dennoch als queer.
  3. Und zum dritten, und darin steckt das größte Konfliktpotenzial, steht er für die Unterstützung der Queer-Theorie, deren unterschiedliche Ausprägungen bis zu der Extremposition gehen, dass es überhaupt kein biologisches Geschlecht gebe und auch das eine rein soziale Konstruktion sei.

Eine der Vertreter*innen mit dieser radikal-konstruktivistischen Sichtweise ist Felicia Ewert, die bis Februar 2024 für das Missy Magazin schrieb (12. Februar 2024 via Instagram verabschiedet). Ewert ist der Auffassung, es gebe kein biologisches Geschlecht. Alles sei eine Konstruktion. Hier zwei Tweets von 2024 und 2022:

Tweet-Screenshot Felicia Ewert @redhidinghood_ "Es gibt keine biologischen Geschlechter."
Tweet-Screenshot von Felicia Ewert, @redhidinghood_ Feb.9 "Du besiegst Queerfeindlichkeit nicht indem du Geschlecht in "biologisch und sozial" einteilst. Beides ist sozial konstruiert.

Diese Lesart geht zurück auf Judith Butler, die, vereinfacht gesprochen, darauf aufbaut, dass jegliche Sprache eine kulturelle Leistung ist, also auch Begriffe wie Mann und Frau kulturell erzeugt werden. Es stimmt, dass Sprache ein Kulturgut ist.

Die relevante Frage aber lautet: Warum benennt der Mensch Dinge und wie unterscheidet er Kategorien? Er benennt und unterscheidet, was er für bedeutsam hält.

Manche Dinge sind in bestimmten Regionen oder Kulturen bedeutsam, in anderen nicht. So gibt es Sprachen, die nur ein Wort für Schnee kennen, andere haben viele Wörter. Vermutlich gibt es auch Sprachen, die dafür gar kein Wort haben, weil Schnee dort unbekannt ist.

Andere Dinge sind universell bedeutsam, etwa für das Überleben einer Art. Deshalb finden wir sie auch überall als sprachliche Kategorien wieder.

Stellen wir uns eine Welt ohne Forschung vor, ohne Ultraschall, Röntgen oder Wissen um Genetik oder Fortpflanzung. Was sehen und erleben die Menschen? Auch ohne zu wissen, wie Fortpflanzung funktioniert, sehen sie Folgendes: Bei manchen Menschen, die Bäuche bekommen, kommt aus diesen Bäuchen ein Baby. Und auch wenn nicht alle Menschen mit einer Vulva ein Baby bekommen, so kommen doch alle Babys aus Menschen mit Vulva. Diese materielle Wirklichkeit ist von höchster Bedeutung für den Erhalt der Gruppe und wird daher benannt.

Deshalb finden wir zwar Sprachen und Kulturen, die mehr als zwei Geschlechterkategorien kennen und benennen, aber keine, die auf die Differenzierung von Mann und Frau gemäß evolutionsbiologischer Merkmale verzichtet.

Denken wir die Thesen von Ewert konsequent weiter, gibt es auch kein trans, kein inter, kein nicht-binär, sondern nur Menschen. Dann erschließt sich mir allerdings nicht, wieso manche Personen vor Gericht klagen, um in dem Geschlecht angesprochen zu werden, dem sie sich zugehörig fühlen. Auf welche Merkmale gründen ihre Vorstellungen von Frau oder Mann? Welchen Sinn ergibt die Selbstbezeichnung nicht-binär ohne die Binarität von Mann und Frau? Welchen Sinn erfüllt Sprache, wenn sie keine Bezug mehr zur dinglichen Wirklichkeit hat?

Wenn wir die körperlichen Unterschiede von Geschlecht nicht mehr für relevant erachten, benötigen wir auch keine rechtlichen Geschlechtseinträge mehr und haben in Folge keine Daten über Geschlechterunterschiede, keine über Geschlechterungerechtigkeit oder über die Diskriminierung geschlechtlicher Minderheiten wie Trans- und Interpersonen. Und wir haben keine Daten, ob unsere Bemühungen zu mehr Geschlechtergerechtigkeit Erfolg haben.

(Un)Ordnung in den geschlechtlichen Begriffen

Die queer-theoretische Sichtweise und die Vehemenz, mit der sie einen Wahrheitsanspruch erhebt, sorgt auch innerhalb der LGBTIQA+-Community für Verwirrung und Konfliktpotenzial. Auf einmal gibt es Personen, die ihren Penis als weibliches Organ verstanden wissen wollen, sich selbst als lesbisch sehen und Zugang zu lesbischen und reinen Frauenräumen fordern.

Kein Wunder, dass vor allem Feminist*innen dagegen protestieren. Sind es doch Frauen, die aufgrund ihrer weiblichen Körper in patriarchalen Systemen benachteiligt und ausgebeutet werden. Sex ist mit Class und Race eine der drei mächtigesten Diskriminierungskategorien weltweit.

Als ich im Sommer 2020 meinen Beitrag über Transgender und Feminismus schrieb, habe ich mir nicht träumen lassen, wie stark sich dieser Konflikt radikalisieren würde.

In den 90er Jahren gab es eine logische Ordnung der LGBT-Begriffe

Manchmal denke ich: Wir waren schon mal weiter in der Akzeptanz geschlechtlicher Viefalt.

Schwule waren Männer, die auf Männer stehen. Gaben sie sich sehr feminin, galten sie als Tunten.

Lesben waren Frauen, die auf Frauen stehen. Gaben sie sich sehr maskulin, galten sie als Butches oder Dykes.

Transsexuelle waren Menschen mit Geschlechtsdysphorie, also Personen, die ihre körperlichen Geschlechtsmerkmale stark ablehnen und ihren Körper möglichst weit an die gefühlte Geschlechtszugehörigkeit angleichen wollten. Nach der Transition wurden sie im Identitätsgeschlecht wahrgenommen, lebten und arbeiteten in dem Geschlecht, das ihnen entsprach. Vielen Transpersonen sehen wir ihre Vergangenheit im Gegengeschlecht nicht an.

Haben sich Männer einfach nur stereotyp weiblich gekleidet und sich geschminkt, waren das Transvestiten. Haben sie das auf der Bühne getan, hieß es Travestie. Wenn diese Verkleidungen besonders pompös waren, hießen sie Drags, Dragqueen für Männer in aufgetakeltem Frauenfummel, Dragking für Frauen im Männeroutfit.

Darüber hinaus gab es viele Styling-Codes, die bestimmte Musikrichtungen oder Lifestyles anzeigten, aber nichts mit Geschlecht zu tun hatten. Heavy-Metal-Fans hatten und haben oft lange Haare, Gruftis schminken sich in bestimmten Styles und so weiter.

Heute dominiert eine queere Unordnung die LGBTIQA-Begriffswelt

Wie oben beschrieben, gibt es im queer-aktivistischen Kontext das Bestreben, die Geschlechterbegriffe vom geschlechtlichen Körper zu lösen und als frei verfübare Wörterwelt der Selbstzuschreibung zu betrachten. Eine Frau ist, wer sich Frau nennt. Und sie ist dann als solche zu betrachten und zu behandeln, ganz egal, wie männlich ihr Körper auch ist.

Personen mit Penis identifizieren sich als lesbische Frau und erwarten von Lesben als solche wahrgenommen (und gedatet) zu werden. Das LBTQIA+-Dating-Portal Grindr hat die Filter so verändert, dass Schwule und Lesben nicht mehr gezielt nach biologischen Männern und Frauen suchen können, sondern nur noch danach, wie sich die andere Seite als Gender selbst identifiziert.

In Großbritannien wurde der Begriff gay von Stonewall umdefiniert, von same sex attracted zu same gender attracted, also von homosexuell zu homogender. Kein Wunder, dass sich neue LGB-Organisationen gründen, die sich davon distanzieren und gay weiter als same sex attracted betrachten.

Feminine Schwule oder Männer, die einfach nur gerne Nagellack tragen und Geschlechterstereotype aufbrechen wollen, werden plötzlich als trans oder queer verstanden.

Butches und Dykes werden am Frauenklo blöd angesprochen, das Klo sei für Frauen. Butches und Dykes sind biologische Frauen, halt welche, die sich eher männlich stylen.

Verwirrung überall. Und das Aggressionspotenzial steigt. Auf Twitter wird meine Timeline zugeschüttet mit Fotos, Artikeln und Tiktok-Videos von und über Menschen, die offensichtlich ganz andere Probleme haben. Oft weiß ich nicht, was Satire ist und was real. Ich bekomme Realitäten gezeigt, die ich eigentlich nicht glauben will. Und doch sind sie real. Ich möchte über Realsatire lachen, wenn es nicht so ernste Folgen hätte.

Dazu kommt, dass es sehr aufwendig ist, zu prüfen, wie seriös eine Info ist, was Fakt ist und wo die Fakten verzerrt und emotionalisiert werden, sei es, um politische Ziele zu erreichen oder um Reichweite zu generieren. Und das ist NICHT Privileg einer bestimmten politischen Richtung, sondern kommt aus allen Ecken, die mit ihren Inhalten politische Ziele verfolgen, inbesondere, wenn sie sehr dogmatische Positionen vertreten.

Normalerweise wären seriöse Medien und Wissenschaft dafür zuständig, hier

  • für eine Einordnung zu sorgen, zu differenzieren und die Fakten vom politischen Aktivismus zu trennen sowie
  • die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Interessenskonflikte zu thematisieren und eine breite Debatte zu moderieren.

Aber leider sind auch sie oft durchsetzt von aktivistischen Aussagen, die sie entweder bewusst setzen oder unreflektiert übernehmen, ohne sie gemäß journalistischer oder wissenschaftlicher Standards zu hinterfragen. Das zerstört viel Vertrauen. Und gefährdet unsere Demokratie.

Was ist der Unterschied zwischen transsexuell und transgender?

Die Frage nach dem Unterschied der Begriffe transsexuell und transgender hätte ich vor wenigen Jahren noch so beantwortet: Sie sind mehr oder weniger synonym. In älteren Texten ist durchweg von transsexuell und Transsexualität die Rede, neuere Texte verwenden häufiger Transgender und Transidentität.

Heute stimmt das nicht mehr: Transsexuelle im klassischen Sinne (nach ICD-10 64.0, für die das Transsexuellengesetz einst verabschiedet wurde) verwenden wieder häufiger bewusst den Begriff transsexuell und betonen sogar, dass sie nicht transgender seien, sondern transsexuell. Sie protestieren damit gegen die Vereinnahmung durch den Queer-Aktivismus im Sinne der oben erwähnten Queer-Theorie, den sie ablehnen.

Der ICD

ICD steht für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ und meint die international einheitliche Codierung von Krankheiten und Gesundheitsproblemen. Der ICD-Katalog wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegeben. Derzeit befinden wir uns in der Übergangsphase vom ICD-10 zum ICD-11. Der ICD-11 wurde am 1.1.2022 veröffentlicht. Gewöhnlich dauert es mehrere Jahre, bis er in das komplexe deutsche Gesundheitssystem übertragen ist.

Im ICD-10: https://www.icd-code.de/ findest du unter F64, Störung der Geschlechtsidentität, Transsexualismus (abgegrenzt von F65, Störung der Sexualpräferenz).

Der ICD-11 liegt bislang nur in einer vorläufigen Übersetzung vor. In Kapitel 17, Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit, heißt es nun Geschlechtsinkongruenz (abgegrenzt von Paraphilien in Kapitel 6): https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html

Politisierte Akronyme und Begriffe über Geschlechtszugehörigkeiten vervielfältigen sich

Für Menschen, die noch damit hadern, überhaupt zu verstehen, was trans, inter, nicht-binär oder divers bedeuten, sind solche Differenzierungen zwischen transsexuell und transgender überfordernd.

Dazu kommen immer neue Akronyme wie FLINTA, FINTA, TIN oder inzwischen auch SLINTA. Hier nur kurz eine Aufschlüsslung, wofür die Buchstaben stehen:

  • FLINTA: Frauen, Lesben, Intergeschlechtliche, Nicht-binäre, Transmenschen, Agender
  • FINTA: Frauen, Intergeschlechtliche, Nicht-binäre, Transmenschen, Agender
  • TIN: Transgender, Intergeschlechtliche, Nicht-Binäre
  • SLINTA: sapphic, lesbisch, inter, nicht-binär, trans, agender

Im queer-aktivistischen Milieu tauchen zahlreiche weitere Wörter und Schreibweisen auf, die die In-Group von der Out-Group nicht nur trennen, sondern auch klar zuweisen, wer zu den „Guten“ gehört und wer zu bekämpfen ist. Das Queer-Lexikon zählt viele Wörter auf, die wohl nur Eingeweihte verstehen.

Das ist alles kein Problem, so lange es sich um eine reine Szene-Sprache handelt. Die gibt es überall, ebenso wie es Fachsprachen gibt, Jugendsprache und unterschiedlichste Slangs, von denen niemand erwartet, dass sie in der Allgemeinbevölkerung verstanden werden. Und schon gar nicht, dass daraus Gesetze erwachsen, die Regeln für alle festlegen.

Wir brauchen klare Kategorien und Wörter, um über das zu sprechen, was uns bewegt

„Wovon man nicht sprechen kann, davon wird man krank“, schreibt die lesbische Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch am Beginn ihres Buches „Gegen das Schweigen“ über ihre lesbische Kindheit und Jugend in den 1950er und 1960er Jahren.“

Und wenn wir kein gemeinsames Verständnis mehr haben, was ein Wort bedeutet, haben wir auch keine gemeinsame Sprache mehr. Dabei ist es die gemeinsame Sprache, die es uns ermöglicht, in sehr viel größeren Gruppen zu kooperieren als das unsere nächsten Verwandten, die Bonobos oder Schimpansen, können.

Wenn du mein Blog kennst, weißt du, dass ich mich für geschlechtergerechte Sprache einsetze, ebenso für Vielfalt und Sprachwandel recht entspannt betrachte. Wenn eine Sprache aber versucht, die Welt der Dinge in eine Welt der individuellen Gefühle zu übersetzen und gleichzeitig keinerlei Rücksicht auf bestehende Strukturen im Sprachsystem nimmt, wird sie nicht nur exkludierend, sondern löst heftige Abwehrbewegungen aus.

Niemand lässt sich vorschreiben oder gar zwingen, was er, sie, sier denken oder fühlen soll. Das kann kein Gesetz der Welt regeln. Eine gemeinsame Sprache verbindet, schafft Vertrauen, ermöglicht Begegnung und ist für eine friedliche Koexistenz bedeutsam.

Wenn der DfB jetzt also Strafen dafür verhängt, weil Fans auf ein Banner schreiben, dass sie Geschlecht im Sinne des biologischen Fortpflanzungsgeschlecht verstehen, tut er der LGBTQIA+-Community keinen Gefallen. Ganz im Gegenteil. Er fördert Reaktanz gegen die berechtigten Anliegen von Trans-, Inter- und nicht-binären Personen. Im nächsten Schritt droht dann der Backlash.

Um Ewerts Tweet oben zu modifizieren: Du besiegst Queer-Feindlichkeit nicht, indem du biologische Tatsachen und die Alltagswahrnehmung von Menschen als feindlich markierst. Im Gegenteil. Damit gefährdest du gendernonkonforme Menschen, weil sie auf einmal als Bedrohung wahrgenommen werden, die sie nicht sind.

Die deutsche Sprache kann mehr: Lasst uns differenzieren. In Thailand wird Frau, Transfrau und Ladyboy (Kathoey) unterschieden. Warum tun wir das nicht auch? Unsere Sprache ist reich, bunt und beweglich. Wenn wir sie miteinander verständlich und in nachvollziehbaren Kategorien gestalten.

Quellen und weiterführende Links:

Christine Hutterer: Transgender-Athletinnen im Leistungssport: Wann ist ein Mann eine Frau?, Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, April 2022, https://www.zeitschrift-sportmedizin.de/transgender-athletinnen-im-leistungssport-wann-ist-ein-mann-eine-frau/?action=print

Duden.de: Rechtschreibung, Geschlecht, https://www.duden.de/rechtschreibung/Geschlecht

Frans de Waal: Der Unterschied – Was wir von Primaten über Gender lernen können, Klett-Cotta, 2022

Gabriella Felita: Grindr’s trans-inclusive filter angers gay rights activist: ‘Delete your service’, The Pink News, 8. Februar 2024, https://www.thepinknews.com/2024/02/08/grindr-issues-today/?utm_content=1707352733&utm_medium=social&utm_source=twitter

Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Suhrkamp, 22. Auflage 2021

Länderdaten.info: Körpergröße nach Ländern, https://www.laenderdaten.info/durchschnittliche-koerpergroessen.php

Luise F. Pusch: Gegen das Schweigen. Meine etwas andere Kindheit und Jugend. Berlin 2022

Pierre Bourdieu: „Die männliche Herrschaft“, Suhrkamp, 5. Auflage 2020

Queer-Lexikon: Glossar: https://queer-lexikon.net/2017/06/08/lesbe/

Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, rororo, 9. Auflage 2008

Stonewall: List of LGBTQ+ terms, https://www.stonewall.org.uk/list-lgbtq-terms

Till Randolf Amelung: Biologie als Provokation, 11. Februar 2024, Initiative Queer Nations, https://queernations.de/wie-biologie-zur-provokation-in-fankurven-wird/

Beitragsbild: Sigi Lieb

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2 Gedanken zu „Geschlecht und Gender: Ordnung im Begriffsdschungel“

  1. Hallo Sigi Lieb, ich habe Ihren Artikel als Mutter einer queeren Person, die ich nur noch als Kind und nicht Tochter bezeichnen darf, dankbar zur Kenntnis genommen. Ich habe einige dieser rhetorischen und zermürbenden Kämpfe ausgefochten, ob über Alice Schwarzer, deren Friedensdemo ich als alte Rot-Grüne nicht besuchen sollte oder über alt-feministische Positionen, die mir Bezeichnungen wie Terf und misogyn eintrugen. Mittlerweile relativiert mein Kind einiges, bekommt einen kritischeren Blick und hat ihre Erfahrungen in der Community gemacht. Ich habe diese und die Erfahrungen anderer Community-Mitglieder als Autorin in einem Theaterstück verarbeitet, was demnächst im Deutschen Theaterverlag (dtv) erscheint. Es heißt „Verrat“ und setzt sich mit perfiden, unterschwelligen Machstrukturen auseinander, die leider insbesondere in Jugendbewegungen immer wieder zu Machtmissbrauch und Manipulation führen. Der Verlag veröffentlicht das Stück unter der Prämisse, dass es ein solches Stücke braucht, um auf die mögliche Agitation hinter verschiedenen Bewegungen aufmerksam zu machen, dabei muss es sich nicht perse um eine queere Gruppe handeln, das sind Mechanismen, die in ganz unterschiedlichen Bewegungen funktionieren können. Wenn es Sie interessiert, es ist ab April voraussichtlich erhältlich. Mein Mann als Sprachwissenschaftler und ehemaliger Deutschlehrer kämpft vehement (als „alter weißer Mann“ verunglimpft) gegen die Verunstaltung der Sprache durch sinnlose Veränderungswut, mangelnde Sachkenntnis und undurchdachten Aktivismus an. Doch es passiert das, was Sie beschreiben, die „Meinung“ über den politisch korrekten Sprachgebrauch spaltet mehr und mehr, statt dass Sprache als soziales Bindeglied unterstützt wird. Mich erschüttert diese Erfahrung, da die deutsche Sprache ein wunderbares Medium zu einem differenzierten und umfassenden Austausch ist, doch leider geht es hier offensichtlich nicht mehr um einen Austausch über eine Verbesserung und Differenzierung des Sprachgebrauchs, sondern um Macht und Deutungshoheit. Man kann nur hoffen, dass man sich auch auf kulturpolitischer und intellektueller Seite des einenden Charakters von Sprache wieder bewusst wird, statt weiterhin die energieraubenden Diskurse emotional anzuheizen und die Gesellschaft zu spalten. Ich wünsche Ihnen viel Glück weiterhin bei Ihrer Arbeit und verbleibe mit herzlichen Grüßen, Christina

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