Satu Marjatta Massaly wurde 1959 im finnischen Lahti geboren und wuchs teilweise in Köln, teilweise in Finnland auf. Sie hat nicht nur den Spagat zwischen zwei Kulturen erlebt, sondern auch, wie sich eine Gesellschaft auf einmal anders benimmt, wenn man sichtbar mit jemandem verbunden ist, der schon aufgrund seines Aussehens aus einem weniger positiv besetzten Kulturkreis kommt.
Interview:
Wie würdest du deine Einstellung zum Thema Identität oder Identitäten beschreiben? Hat sie sich im Laufe deines Lebens verändert?
Die Bedeutung von „Identität“ hat mich mein Leben lang beschäftigt – es ist mein Lebensthema. 1960 ist mein Vater von seinem Arbeitgeber, Asko-Finnlandmöbel, aus Finnland in das Wirtschaftswunder-Deutschland geschickt worden, um Qualitätsmöbel in die neu gebauten Wohnungen im Nachkriegsdeutschland zu verkaufen. Er nahm seine frisch gegründete Familie mit. Also verbrachte ich meine prägendsten Kindheitsjahre in Deutschland. Mit von der Partie war meine zwei Jahre ältere Schwester und später mein 1963 in Köln geborener Bruder. Unsere Familie war eine „finnische Insel“ in Deutschland – dort wurde auf Finnisch gesprochen, gegessen und gefeiert. Sobald die Wohnung – also die Insel – verlassen wurde, wurde in meiner kindlichen Wahrnehmung ein anderer Kulturkreis – also Deutschland – betreten. Möglicherweise liegt es daran, dass ich mich bis heute als eine Grenzgängerin zwischen den Kulturen empfinde und keiner eindeutigen Identität zugehörig fühle.
Ich empfinde mich als Grenzgängerin, die keiner eindeutigen Identität zugehörig ist. Share on XBist du oft umgezogen? In welchen Ländern und an welchen Orten hast du gelebt?
In meinen ersten zehn Lebensjahren sind wir von Lahti in Finnland nach Köln, zurück nach Lahti und dann über Helsinki wieder nach Köln gezogen. Später habe ich als junge Erwachsene nochmal vier Jahre in Helsinki gelebt.
Gibt es eine Phase in deinem Leben, in der du dich stark umstellen musstest, weil plötzlich alles anders war? Was war das Schwierige?
Der zweite Umzug nach Köln war für mich sehr belastend. Ich fühlte mich in Köln fremd und die deutsche Sprache war mir nicht mehr vertraut. Durch die vielen Umzüge und damit verbundenen Anpassungsleistungen in den vergangenen drei Jahren zuvor war ich nun endgültig überfordert. Das zeigte sich in sehr schlechten Schulnoten, häufigen Erkrankungen und starken Ängsten in der Nacht aber auch tagsüber in der Schule.
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Ich vermisste in Köln bis in meine Teenagerjahre meine warmherzigen und evangelischen Großeltern väterlicherseits, vor allem meine Oma Elma, die mich in Lahti oft mit einem Abendgebet ins Bett gebracht hatte. Nun sah ich sie nur noch selten in den Sommerferien.
Als ich 1992 meinen zukünftigen Mann aus dem Süd-Senegal, Lamine Massaly, kennenlernte und 1993 heiratete, lernte ich eine völlig neue Realität in der deutschen Gesellschaft und innerhalb meiner Familie kennen. Mein Mann löste durch seine geringe Schulbildung, sein islamisches Glaubensbekenntnis und seine augenfällig andere Hautfarbe enorme Ablehnung aus. Auch ich wurde bei Behördengängen und in der Öffentlichkeit von den negativen Vorurteilen in der Gesellschaft durch abschätzige Blicke und Behandlung getroffen. In den ganzen 24 gemeinsamen Ehe- und Partnerschaftsjahren wurde mein Partner nicht in meinen Familienverband aufgenommen. Niemals zuvor habe ich so viel Negativität, Ignoranz, Repressalien, Respektlosigkeit und Abwehr erlebt.
Niemals zuvor habe ich so viel Negativität, Repressalien und Abwehr erlebt. Share on XMeine Kultur und die Gesellschaft, mit der ich mich bislang identifizierte, schien ihr Gesicht völlig verändert zu haben. Es begann ein 25-jähriger Prozess der neuen Identifikation und Positionierung – sowohl innerhalb der Ehe und Familie als auch gegenüber der Gesellschaft. Rückblickend bin ich sehr gewachsen indem ich mir mein eigenes Bild machen musste und mir meiner eigenen Schwächen, Stärken und vor allem Werte bewusst werden musste und Verantwortung für mein Denken und Tun zu übernehmen.
Denk bitte an deine Grundschulzeit. Welche Bilder, Gefühle und Erlebnisse aus dieser Zeit sind dir präsent? Was ist dir aus deiner Jugend als besonders wichtig in Erinnerung?
Wegen meiner schweren Nierenerkrankung durfte ich keinen Kindergarten besuchen. Rückblickend ist es mir etwas schleierhaft, wann und wie ich unter diesen Umständen die deutsche Sprache erlernt habe. In jedem Fall beherrschte ich Deutsch bei der Einschulung in Köln-Junkersdorf. Nach dem ersten Grundschuljahr wurde mein Vater jedoch unerwartet in meine Geburtsstadt Lahti zurückbeordert, so dass die ganze Familie kurzerhand in die finnische Provinz zog. Dort ging es allen Familienmitgliedern sehr gut – abgesehen von meinem Vater: Er wollte wieder in die große weite Welt zurück. Aus verschiedenen Gründen teilte sich die Familie daraufhin für ein Jahr: Meine Mutter, mein Bruder und ich zogen nach Helsinki, wo ich die deutsch-finnische Schule (4. Grundschuljahr) besuchte. Mein Vater und meine Schwester gingen als Vorhut zurück nach Köln. 1969 zogen wir drei aus Helsinki dann auch nach Köln, wo ich auf das Gymnasium kam.
Mein neuer Klassenlehrer auf dem Gymnasium machte sich über meine zahlreichen Schreibfehler im Diktat vor der Klasse lustig: „Marjatta hat mal wieder den Bock geschossen! Stellt euch vor: sie hat 44 Fehler!“ (Hahaha). Er empfahl meinen Eltern meine Versetzung auf die Hauptschule. Glücklicherweise kämpfte meine Mutter dagegen an und konnte anhand eines schulpsychologischen Gutachtens durchsetzen dass ich auf der Schule bleiben konnte. Allerdings unter der Bedingung die Klasse zu wiederholen. Schon wieder wechselte der Klassenverband! Zusammenfassend hat die wechselreiche Schulzeit in mir die Überzeugung verfestigt „Ich gehöre nicht dazu. Immer falle ich irgendwie aus dem Rahmen und genüge den jeweiligen Ansprüchen nicht.“
Er empfahl meinen Eltern meine Versetzung auf die Hauptschule. Share on XGleichzeitig war es auch aufregend und spannend mit der Familie in den Ferien Italien, Frankreich, Spanien und Jugoslawien mit dem Wagen zu entdecken. 1972 nahm mein Vater mich auf einen Wochenendausflug mit nach Paris – für mich eine der ersten Erfahrungen „was es heißt erwachsen zu sein“.
Was bedeutet für dich Heimat und wo fühlst du dich heute zuhause? Welche Bilder, Gerüche oder Gefühle verbindest du mit dem Begriff Heimat?
Für mich selbst überraschend verbinde ich „Heimat“ mit Finnland – bis heute! Obwohl ich von 58 Lebensjahren insgesamt nur acht in Finnland verbracht habe. Wahrscheinlich liegt es an unserer „finnischen Insel in Köln“, den alljährlichen Sommerferien in der finnischen Natur und meinem sehr positiv belegten vierjährigen Arbeitsaufenthalt als junge Erwachsene in den 80er Jahren in Helsinki, dass Finnland für mich mit Entspannung, Natur und Angenommen-Sein verknüpft ist. Vor allem der Duft von Heu und im Herd brennendem Birkenholz ruft Heimatgefühle hervor.
Ich denke, dass für mich „Heimat“ einen Ort beschreibt, an dem ich mich geborgen und willkommen fühle. Letztlich ist es wahrscheinlich zweitrangig ob man in der „Heimat“ auch geboren wurde … Denn Deutschland ist für mich auch eine Heimat, aufgrund der 50 Jahre Lebenszeit, der Sprache, die ich inzwischen besser beherrsche als Finnisch und aufgrund der vielen wichtigen Menschen mit denen ich mich hier verbunden fühle.
Stell dir vor, du musst wegziehen in eine weit entfernte Stadt oder sogar in ein anderes Land. Welche drei Dinge brauchst du unbedingt, damit du am neuen Ort ankommen kannst?
Wenn ich an einen weit entfernten Ort umziehen müsste, dann möchte ich
- die dortige Sprache beherrschen,
- die Kontaktdaten meiner Freunde und Familie in der Tasche haben (oder idealerweise möglichst viele Freunde mitnehmen) und
- Ein offenes Herz für all das Neue und die Menschen mitbringen.
Die Frage „Woher kommst du eigentlich?“ ist in Deutschland alltäglicher Gegenstand von Smalltalk. Jeder vorhandene oder fehlende Dialekt oder Akzent, das Aussehen und andere Merkmale werden zum Anlass von Fragen, manchmal aus Neugierde, manchmal um über etwas anderes als das Wetter zu reden und manchmal belastet von Vorurteilen und Erwartungen. Was denkst du über die Frage und wie gehst du damit um, wenn du auf deine Herkunft angesprochen wirst?
Meine finnische Herkunft ist in Deutschland in der Regel sehr positiv besetzt. So gesehen ist es OK als „Exotin“ betrachtet zu werden, andererseits weckt es auch unterschwellig das Gefühl in mir „eben nicht hundertprozentig dazu zu gehören“. Daher stehe ich der Frage „Woher kommst Du eigentlich?“ recht ambivalent gegenüber.
Gibt es andere Fragen als die nach der Herkunft, die du gefühlt jedes Mal gestellt bekommst, wenn du auf neue Menschen triffst? Welche und was machst du, wenn du davon genervt bist?
Nein.
Gibt es einen Glaubenssatz, der dich leitet und begleitet?
Eine gute Voraussetzung für eine wertschätzende Annäherung zwischen zwei unterschiedlichen Positionen ist die Fähigkeit sich die Welt mit den Augen des Anderen betrachten zu lernen. Nur so können zwischen beiden Seiten Brücken gebaut werden. Denn wenn ich nicht das Gelände auf der anderen Seite kenne, kann ich auch keine Brücke dorthin konstruieren. Daher lautet mein Glaubenssatz: „Betrachte jeden Menschen aus seiner Position und behandle ihn dabei mit Respekt. Obwohl wir das Ergebnis der Einflüsse in die wir hineingeboren wurden sind, verbinden uns lebenslang die gleichen Grundbedürfnisse.“
Was ist für dich die größte Herausforderung unserer derzeitigen Gesellschaft?
Gesellschaftlich betrachtet gilt es aus meiner Sicht ein soziales Umfeld zu schaffen in dem die Menschen ihre Potentiale entfalten und im Bewusstsein der Verbundenheit sowie Abhängigkeit leben. Erst dann fühlt sich jeder Mensch willkommen und wichtig in dieser Welt. Das ist aus meiner Sicht eine Basis für Frieden.
Wenn du die freie Wahl hättest, wo möchtest du gerne leben?
Ich möchte naturnah in einer überschaubaren Dorfgemeinschaft leben – das kann in Deutschland oder Finnland … vielleicht sogar „am anderen Ende der Welt“ sein. Das wichtigste – und gleichzeitig die größte Herausforderung – ist für mich die Verbundenheit.
Vielen Dank für das Gespräch.
Marjatta hat aus ihren besonderen Lebenserfahrungen inzwischen einen Beruf gemacht. Als Heilpraktikerin für Psychotherapie hat sie sich auf den Themenschwerpunkt Interkulturelle Paarberatung spezialisiert: https://www.interkulturelle-paarberatung.koeln/
* Die Fotos wurden von Marjatta zur Verfügung gestellt.