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Streitkultur statt Leitkultur: Warum wir streiten lernen müssen

Ich war gestern auf einer Diskussionsveranstaltung im Buchladen in Nippes. Thema waren die Thesen von Aladin El-Mafaalani. In seinem Buch „Das Integrations-Paradox“ erklärt er, warum die vielen Streitereien und Diskussionen zum Thema Integration ein Zeichen gelungener Integration sind. Er sprach über offene und geschlossene Gesellschaften, über verunsicherte Mitten und wachsende Ränder und über die Notwendigkeit einer Vorstellung von der Zukunft. Mit auf der Bühne waren zwei Vertreterinnen der Willkommensinitiative Nippes sowie ein Moderator vom WDR. Der Buchladen war rappelvoll.

Streitkultur Gleichberechtigung | Integration | Konflikt Diversity und Kommunikation, Bücher und Rezensionen, Debatte, Demokratie und Medien

El-Mafaalani ist Sohn syrischer Einwanderer, Lehrer, Professor für Politikwissenschaft und politische Soziologie und koordiniert 2019 die Integrationspolitik im NRW-Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration. Als Metapher für die Integration von Migrierten in eine Gesellschaft wählt er einen Tisch.

Die Gesellschaft am Entscheidertisch

Zuerst sitzen die, die neu dazu kommen, am Boden. Es dauert eine Weile, bis sie die Sprache gut genug sprechen, die Tischregeln kennen, den Mut haben, mitzumischen, bis sie also am Tisch Platz nehmen dürfen, können und wollen. Das ist er erste Schritt der Integration. Im nächsten Schritt sind die Neuen am Tisch eben keine Neuen mehr und erheben Anspruch, über die Verteilung des Kuchens auf dem Tisch mitzuentscheiden. Im dritten Schritt – da sind wir heute – streiten wir darüber, ob das der richtige Kuchen, das richtige Rezept ist. Der Kuchen kann dabei für alles Mögliche stehen. Naheliegend ist die Metapher für das Thema Ressourcen, wobei man Ressource weit fassen kann. Tischregeln stehen für Gesetze und Regularien. Und möglicherweise gibt es auch eine Diskussion darüber, wer an welchem Platz am Tisch sitzt.

Vor 50 Jahren war dieser Tisch sehr homogen: hellhäutige heterosexuelle Männer (bzw. wenn schwul, dann heimlich) saßen beieinander, bestimmten die Tischregeln und verteilten den Kuchen. Heute sitzen da Männer, Frauen, auch schwangere Frauen und Mütter, offen Homosexuelle, Menschen mit Behinderung und Menschen, denen man ansieht, dass ihre Eltern oder Großeltern nicht in Deutschland geboren sind. Sie alle bringen unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen an den Tisch. Sie diskutieren mit über die Verteilung des Kuchens, die Tischregeln und auch darüber, ob das überhaupt der richtige Kuchen, das richtige Rezept ist. Die Tischbesetzung ist also vielfältiger geworden und damit gibt es mehr Diskussion und Streit über den Kuchen oder auch die Tischregeln.

Konflikte als Zeichen gelungener Integration

Konflikte sind also ein Zeichen gelungener Integration. Weil der Tisch heute vielseitiger, weniger homogen ist, werden auch Interessen derer verhandelt, die vorher nicht mitreden durften. Nach El-Mafaalani ist die Frage „Gehört der Islam zu Deutschland“ erst durch erfolgreiche Integration entstanden. Islamischer Religionsunterricht? In den 80er Jahren kein Thema. Kopftuch? Auch nicht oder nur in sehr geringem Maße. Bei einer Putzfrau hat sich keiner über das Kopftuch beschwert. Wenn das aber eine Frau ist, die mitreden will, die gar Entscheidungen trifft, ist das Kopftuch auf einmal Thema. Dass wir so hitzig debattieren ist Ausdruck dessen, dass Integration an vielen Stellen gelungen ist. Streit ist also positives Zeichen von Integration.

Recherche kostet Zeit

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Negativ dagegen ist Desintegration. Desintegration verursacht Probleme, etwa die Herausbildung paralleler Gesellschaften (eigener Tische). Diese Strukturen sind gewachsen weil sich keiner um Integration gekümmert hat. Niemand hat hingesehen. Unterstüztungsangebote gab es nicht oder nur rudimentär. Migrierte wurden von der Mehrheitsgesellschaft ausgeblendet und ihre Interessen fanden am Tisch nicht statt. El-Mafaalani ist sich sicher, dass sich heute keine so problematischen Clanstrukturen mehr entwickeln könnten. Eben weil wir hinsehen, weil es Hilfsangebote gibt, weil wir reden und streiten, weil wir fragen, was die Neuen brauchen, damit sie mit am Tisch teilhaben können.

Sozialer Fortschritt ist ohne Konflikte nicht zu haben

Konflikte sind aus soziologischer Sicht nötig, um soziale Fortschritte zu erzielen. Weder haben die Monarchen freiwillig ihre Macht abgegeben, noch haben Arbeitgeber freiwillig Arbeitnehmerrechte eingeführt. Frauen erkämpften sich ihren Platz am Tisch ebenso wie LGBT-Leute. Am wenigsten Erfolg hatten bisher Menschen mit Behinderung. – Aber alle sozialen Fortschritte sind durch Konflikte entstanden. Wir brauchen also eine Streitkultur.

Eine Streitkultur ist nicht zu verwechseln mit dem Schlagabtausch und Gezeter, was wir fast täglich in Talkshows zu Gesicht bekommen. Und es ist nicht zu verwechseln mit den verbalen Schützengräben aus denen im Netz gerne geschossen wird. Aber dazu später mehr.

Offene und geschlossene Gesellschaften

El-Mafaalani ist ja kein selbsternannter Experte, sondern Professor für Soziologie und forscht zu dem Thema. Er brachte viele internationale Beispiele und beschrieb seine Methode. Er vergleicht, was in unterschiedlichsten Gesellschaften passiert und arbeitet heraus, was überall gleich ist. Mit dieser Herangehensweise stellt er fest, dass der beschriebene Prozess in allen offenen Gesellschaften stattfindet. Und dass alle offenen Gesellschaften Einwanderungsländer sind.

Das Buch habe ich (noch) nicht gelesen, daher kann ich da jetzt nicht in die Tiefe gehen. Spätestens nach dem gestrigen Abend steht es aber auf meiner To-Read-Liste. Mir gefiel diese sachlich-nüchterne Herangehensweise und ich mochte die unprätentiöse, lockere Art, mit der El-Mafaalani sprach. Er vertritt nicht irgendein Pro oder Kontra in der Integrationsdebatte sondern beschreibt eher den sozialen Prozess.

Ein Blick in unsere Verfassung, das Grundgesetz

Das Grundgesetz bezeichnet El-Mafaalani als Algorithmus für eine gesellschaftliche Öffnung. Unser Grundgesetz definiert eine offene Gesellschaft und zwar so offen, dass sich die deutsche Gesellschaft seit Bestehen dieses Regelwerks diesem erst langsam annähert. Die moralische Forderung, die im Grundgesetz formuliert wird, war nie Realität. Aber wir nähern uns an. Die unterschiedlichen Minderheiten haben sich mehr Rechte und mehr Teilhabe erstritten und je kleiner der Abstand zu den ursprünglich Privilegierten wird, umso heftiger wird um die verbleibende Diskriminierung gestritten.

Nehmen wir Artikel 3 und die Frauen. Nun sind die Frauen keine Minderheit, sondern die Hälfte der Gesellschaft, benachteiligt wurden und werden sie dennoch. Wie ist Artikel 3 zu vereinbaren mit der Legalität der Vergewaltigung in der Ehe (bis 1997!) oder der Tatsache, dass eine Frau die Unterschrift ihres Mannes brauchte, wenn sie arbeiten wollte (1977)? Gar nicht. Genau. Und es brauchte einen langen Kampf, um das zu erreichen.

Art 3, GG

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Und wenn wir Absatz drei lesen, wissen wir, dass wir noch nicht in der Gesellschaft angekommen sind, die unser Grundgesetz formuliert. Es gibt also noch zu tun.

Verunsicherte Mitte: Wir brauchen Visionen von der Zukunft

Das Problem, das wir derzeit erleben, ist, dass wir eine verunsicherte Mitte haben. Es gibt Gruppen, die sehr einig und klar darin sind, die Gesellschaft weiter öffnen zu wollen. Und es gibt welche, die klar dagegen sind und sie wieder mehr schließen wollen, also die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zurückdrehen und dem weißen heterosexuellen Mann und Patriarchen als Tischoberhaupt mehr Gewicht geben wollen. (Warum nur fällt mir jetzt gerade das Foto von der Ministerriege in München vor Kurzem ein, bei dem die Frauen vergessen wurden und das entsprechend viel Hohn im Netz erntete.)

„Die Mitte versteht nicht, dass wir uns streiten, weil wir so erfolgreich sind“, meint El-Mafaalani. Auch wenn Gleichberechtigung weder für Migrierte, noch für Frauen, LGBTs oder Menschen mit Behinderung erreicht ist, so sind die Abstände zur dominanten Gruppe (weiß, heterosexuell, männlich, ohne Behinderung) kleiner geworden. Und weil diese Abstände geschrumpft sind, wird der Widerstand größer.

Die Leute, die die Öffnung rückgängig machen wollen, die geschlossene Gesellschaften bevorzugen, werden von unserem Grundgesetz ebenso geschützt. Auch das ist ein Paradox. Und dieser Schutz wird Rechtsradialen und -extremen ebenso gewährt wir Islamisten, solange sie nichts Illegales tun. Das Denken wird in Deutschland nicht bestraft. Bestraft wird die gesetzeswidrige Handlung.

Das Denken wird in Deutschland nicht bestraft. Bestraft wird die gesetzeswidrige Handlung. Share on X

Das Problem sind aus Sicht El-Mafaalanis aber nicht die Ränder der Gesellschaft, sondern die Verunsicherung der Mitte. Eine Mitte, die keine Vision mehr hat, keine Idee oder Ideologie von einer Gesellschaft der Zukunft, wohin sie streben möchte.

Genau hier verfangen Populisten, in Deutschland wie andernorts: Früher war alles besser. El-Mafaalani zählt eine ganze Reihe von internationalen Beispielen auf, vom Brexit über Make Amercia great again in den USA bis hin zu Träumen von der einstigen niederländischen Welthandelsmacht und der französischen Grand Nation. Alle populistischen Bewegungen haben Vergangenheitsbezug.

Alle populistischen Bewegungen haben Vergangenheitsbezug. Was wir aber brauchen, ist eine Vision von der Zukunft. Share on X

Was wir aber brauchen, ist eine Vision von der Zukunft, der Zukunft einer globalen und digitalen Gesellschaft, denn in der leben wir. Und es ist keineswegs sicher, dass sich die Idee von der offenen Gesellschaft am Ende durchsetzt. Wir sind daher alle aufgefordert, über die Zukunft zu streiten. In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Und was müssen wir tun, damit uns das gelingt?

Eine Streitkultur lernen

Die Mitte habe nicht verstanden, dass der Streit ein Zeichen gelungener Integration sei, meint El-Mafaalani. Befeuert wird das dadurch, dass viele Streitereien, die wir täglich beobachten können, keineswegs konstruktiv ausgetragen werden.

Ich schau mir schon lange keine Talkshows mehr an im Fernsehen. Denn das ist in der Regel ein bloßer Schlagabtausch. Im Grunde geht es darum, den Publikumspreis zu gewinnen. Um Inhalte und Lösungen für Probleme geht es nicht. Sie sind bloß Mittel der Selbstdarstellung.

Anstrengend und unproduktiv sind auch die verbalen Schützengräben, aus denen auf Social-Media-Plattformen geschossen wird. Auch hier geht es nur ums Gewinnen, um das Rechthaben, das Niedermachen des Debattengegners.

Zuhören? Ernst nehmen? Lösungen diskutieren, die unterschiedliche Interessen berücksichtigen? Fehlanzeige.

Genau darum geht es aber bei Streitkultur. Konflikt bezeichnet zunächst mal ein unterschiedliches Interesse, ein anderes Verständnis oder eine andere Vorstellung von der Wirklichkeit beziehungsweise der zu erstrebenden Wirklichkeit. Der Streit im positiven Sinne formuliert ist die Auseinandersetzung eben darüber. Im positiven und konstruktiven Sinne hört man sich die Argumente des anderen an, versucht zu verstehen und sucht nach Verständnis und Interessensausgleich. Und je besser man die Interessen und Bedürfnisse des anderen versteht, umso eher lässt sich eine gemeinsame Zukunft konstruktiv gestalten.

Zuhören. Ernst nehmen. Lösungen diskutieren. Genau darum geht es bei Streitkultur. Share on X

Um Streiten zu lernen, ist es wichtig, Mensch und Interesse, Wesen und Verhalten auseinanderzuhalten. Es geht also um eine Haltung. Nicht der Mensch ist schlecht, sondern er hat vielleicht ein anderes Interesse (welches?) und ein Verhalten, das ich ablehne (warum?).

Der zweite wichtige Punkt ist, nicht das Streitgespräch gewinnen zu wollen, wie ein Schachturnier oder ein Mensch-ärgere-dich-nicht, sondern gemeinsam einen Interessensausgleich zu suchen.

Und wenn sich jeder von uns Mühe gibt, hier ein Stück mehr zuzuhören, dort ein Stück mehr abzuwarten und nachzudenken, bevor er oder sie antwortet, ist viel gewonnen.

Ich persönlich bin guter Dinge, dass uns die nachwachsende Generation gerade neue Visionen von Gesellschaft zeigt. Mir gefällt, wie politisiert ein Teil der Jugend ist, sei es beim Thema Klimawandel oder digitales Leben. Beides wichtige Themen, über die wir reden müssen. Genau wie über die globale Gesellschaft.

Und ein bisschen Off-Topic möchte ich noch ein paar Worte über den Veranstalter und die beteiligte Initiative verlieren:

Der Nippeser Buchladen

Wie ein kleines Ladengeschäft die eigene Konkurrenzfähigkeit verbessert und gleichzeitig das Miteinander im Viertel mitgestaltet

Für alle, die nicht in Köln wohnen: Es handelt sich um einen kleinen Buchladen im Viertel. Im Haus daneben hat der Buchladen außerdem ein Geschäft für Papier und Geschenkideen aufgemacht. Im vorderen Bereich befindet sich eine kleine Crêperie als Shop-in-Shop-Konzept. Die Konkurrenz auf der Straße ist hart. Denn nur ein paar Meter weiter gibt es seit ein paar Jahren eine Filiale der Mayerschen Buchhandlung – unter den niedergelassenen Geschäften eine Branchengröße im Rheinland. Geschäftsführerin Dorothee Junck hat sich mit dieser Öffnung des Buchladens als nachbarschaftlicher Treffpunkt und Veranstaltungsort nicht nur Potenziale eröffnet, mit ihrem kleinen Laden gegen Amazon und die Konkurrenz von der Mayerschen zu bestehen. Sie beteiligt sich als Geschäftsfrau aktiv an der Gestaltung des Miteinanders im Veedel. Die Einnahmen aus der gestrigen Veranstaltung gingen komplett an die Willkommensinitiative Nippes, die in den vergangenen vier Jahren ihr Engagement für eine gelungene Integration stetig weiterentwickelt hat.

Update: Debattenkultur und Hatespeech

Gestern war ich bei Linkedin Local Cologne und dort gab es eine Live-Podcast-Aufzeichnung zum Thema Hatespeech. So kommt es, dass ich heute in alten Blogartikeln wühle. Im August 2023 erscheint dieser Text aus dem Jahr 2016 dringlicher denn je: Wir müssen Demokratie wieder lernen.

In den letzten Jahren haben sich die Debattenräume und die Fähigkeit miteinander in demokratischer Tradition zu streiten, verengt. Es wird gehetzt, gedisst, gehatet.

Ich liebe den Diskurs und ich mag kontroverse Debatten. Was ich nicht leiden kann, wenn Leute persönlich werden und aufeinander losgehen, anstatt in der Sache zu argumentieren. Im Mai 2023 schrieb ich daher diesen Beitrag zu Debattenkultur und Cancel Culture:

Ich hoffe, dass mehr mächtige Influencer*innen-Accounts sich des Themas annehmen und mit gutem Vorbild vorangehen. Es gibt keine Vielfalt ohne Meinungsvielfalt. Wir müssen einander aushalten, auf der Grundlage demokratischer Werte.

Nützliche Links:

Zum Buchladen: https://www.buchladen-nippes.de/home

Zum Buch von El-Mafaani: https://www.kiwi-verlag.de/buch/aladin-el-mafaalani-das-integrationsparadox-9783462054279

Zur Willkommensinitiative in Nippes: https://www.willkommen-in-nippes.de/ueber-uns

Und zum Nachlesen, unser Grundgesetz: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html

* Text und Bild – Sigi Lieb

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