Wir shitstormen um die Wette. Cancel Culture, Gender-Ideologie, TERF, woker Wahnsinn… Ob auf (A)Social Media, auf Demos oder in manchen Medienbeiträgen. Überalle Geschrei, Freund-Feind-Schemata, schwarz oder weiß. Differenzierende, moderierende, sachorientierte Stimmen haben es schwer durchzudringen. Auf der Strecke bleibt die Debattenkultur. Und mittendrin: Viele neue Wörter und eine problematische Bedeutungsverschiebung alter Wörter. In diesem Blogbeitrag geht es um Begriffe, die im aktuellen Debattenkontext problematisch verwendet werden und was wir tun können, um die Debattenkultur zu verbessern.
Wenn Beschimpfung und Beleidigung ad hominem über der Sache stehen
Der Journalist Hasnain Kazim schrieb im Mai 2023 auf Twitter von zwei Mails, die er bekommen hat: Die eine bezeichnete ihn als „rechter reaktionärer Sack“, die andere als „linksgrünversifft“. Er kommentiert es mit Humor: „Jetzt habe ich ein Identitätsproblem“.
Ich erlebe es ähnlich: Die einen bezeichnen mich als linksgrünversiffte, woke Anhängerin der Trans-Ideologie. Die anderen beschinmpfen mich als rechte, faschistoide, transfeindliche TERF. Bin ich jetzt rechtsextrem oder linksextrem oder sind die extrem, die mit solchen Vorwürfen um sich schmeißen?
Anstatt sich in der Sache mit einer Frage, These oder einem Argument auseinanderzusetzen, wird gegen den Menschen angeschrieben. Er wird beschimpft, beleidigt oder ad hominem als nicht diskurs-zulässig bezeichnet.
Das Ziel solcher Beleidigungen und Zuschreibungen: Sie verschieben die Debatte weg von der Sache, um die es geht, hin zu einer Person, die als nicht diskursfähig abgewertet wird. Sie sollen Menschen in Schubladen stecken und für die Anhänger*innen der eigenen Sichtweise als unzumutbar brandmarken. Entsprechend nutzen das oft Menschen, die selbst keine Argumente in der Sache haben, sonst könnten sie diese ja anbringen.
Ich investiere viel Arbeitszeit in meine Blogbeiträge, beachte journalistische Kriterien und stelle viel weiterführende Information zur Verfügung. Das alles stelle ich kostenlos für alle zur Verfügung – ohne bezahlte Werbung auf meiner Seite. Aber natürlich muss auch ich im Supermarkt mit Euros bezahlen. Daher freue ich mich, wenn du meine ehrenamtliche redaktionelle Arbeit unterstützt.
Ich denke: Der einzig vernünftige Umgang mit solchen Attacken ist Öffentlichkeit, nicht zuletzt, um damit die Absurdität solcher Beschimpfungen transparent zu machen.
Das ist aber nicht nur anstregend, sondern bedrohlich und beängstigend, wie hier mit Menschen umgegangen wird. Der Selbstmord der österreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr nach Attacken von Corona-Gegner*innen ist ein trauriges Beispiel, wohin der Hass führt.
Auch ich habe manchmal Angst. Und ich kenne etliche Menschen, die mir sagen: Ich sag dazu gar nichts mehr, das ist mir alles zu aggressiv.
Aber ich will mir nicht den Mund verbieten lassen. Ich will die Bühne nicht den Schreihälsen überlassen. Ich möchte, dass wir zurückkehren zu einer demokratischen Debattenkultur. Denn ich bin überzeugt: Sie ist die Voraussetzung für eine demokratische und vielfältige Gesellschaft.
Im Folgenden gehe ich auf einige zentrale Begriffe der aktuellen Streit-Unkultur ein:
Cancel Culture
Cancel Culture ist als Vorwurf beliebt bei eher konservativen, populistischen sowie rechtslastigen Positionen. Cancel Culture lässt sich wohl am einfachsten mit Verbotskultur übersetzen. Sie meint aber auch, wenn zum Beispiel Personen von Veranstaltungen ausgeladen werden oder anderweitig verhindert wird, dass sie ihre Sichtweise darlegen können.
So unterstellte die Bild-Zeitung am 1. April 2023 der Tagesschau, sie wolle das Wort Mutter abschaffen. Auf Twitter fragte mich jemand, ob das ein Aprilscherz sei.
Letztlich hatten zwei Journalistinnen der Tagesschau das mit dem Gendern etwas übertrieben und die Bild-Zeitung hat daraus eine Empörung und einen Skandal gebastelt. Dann wurde sich tagelang aufgeregt. Naja, wir kennen das Muster. Es wiederholt sich ständig. Ähnlich verlief das Empörungs-Theater bei „Winnetou“oder „Leyla“. Private Entscheidungen wurden zur Verbotskultur hochstilisiert. Ziel: Aufregung, Reichweite (also Geld verdienen) und andere delegitimieren.
Dabei gibt es tatsächlich Fälle von Cancel Culture. Also Ereignisse, bei denen Leute ausgeladen werden, ihren Job verlieren, nicht gehört werden, weil eine Gruppe sagt, diese Sicht auf die Welt dürfe keine Stimme bekommen. Da sollten wir hinsehen und handeln. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut in einer Demokratie. Ihre Grenzen stecken die Verfassung und das Strafgesetzbuch, nicht aktivistische Gruppen.
Ein prominentes Beispiel aus Großbritannien ist Kathleen Stock, eine lesbische Philosophie-Professorin. Gegen sie wurde so lange gehetzt, bis sie ihren Lehrstuhl aufgab.
Doxing oder Doxxing
Nicht nur die Grenzen der Meinungsfreiheit sind im Strafgesetzbuch definiert, auch Persönlichkeitsrechte. Selbstjustitz und Mobbing sind strafbar. Egal von welchem politischen Lager sie ausgehen und egal, gegen wen sie sich richten.
Dazu gehört das sogenannte Doxing oder Doxxing. Gemeint ist damit, Klarnamen und Adressen von Personen auszuspionieren und zu veröffentlichen mit dem Ziel, dass andere Personen gegen diese Person protestieren können oder Schlimmeres. Nicht selten endet Doxing für die betroffene Person mit Hassmails bis hin zu Morddrohungen oder Störungen des Wohnfriedens, also mit Psychoterror und Gewalt.
Ich wiederhole mich: Selbstjustiz und Mobbing sind strafbar. Egal von welchem politischen Lager sie ausgehen.
Mit Wirkung zum 22. September 2021 wurde der §126a StGB eingeführt, der sich explizit mit dem Thema befasst: Doxing und das Anlegen von „Feindeslisten“ sind nach §126a StGb strafbar. Auf anwalt.de wird es genauer ausgeführt.
Feindeslisten sind auf Twitter beliebt: Reichweitenstarke Influencer*innen legen Listen an und sagen ihren Follower*innen, wem sie folgen und wen sie blocken sollen. So kommt es immer wieder vor, dass jemand von Leuten geblockt wurde, zu denen sier noch nie vorher Kontakt hatte. So landen Leute gleichermaßen auf Listen ‚Linke Zecke‘ und ‚Nazi‘. Im Grunde sind diese Listen samt Block(un)kultur ein Instrument der Informationskontrolle und ein Mittel der Konflikt-Eskalation.
Kulturelle Aneignung
Ein Vorwurf, der häufig aus dem links-aktivistischen Lager kommt, heißt „Kulturelle Aneignung“. Auch diesen Begriff empfinde ich als schwierig, weil er im Diskurs verstörend verwendet wird und dabei die Ernsthaftigkeit der Sache unter die Räder kommt.
Im engeren Sinne hat der Begriff „Kulturelle Aneignung“ eine wichtige Bedeutung, nämlich, dass sich die mächtige Seite an den Leistungen der ohn-mächtigen Seite bedient und davon profitiert, weil sie es kann, weil sie die Macht hat.
Auf der anderen Seite ist die Geschichte der Zivilisation durchzogen von kulturellem Austausch in dem Sinne, dass wir voneinander lernen, Dinge aus anderen Kulturen übernehmen und sie mit der Zeit zum Teil unserer Kultur werden. So ist es heute völlig normal, wenn sich hierzulande Menschen mit einer Umarmung und einem angedeuteten Wangenkuss begrüßen. Das ist vermutlich aus Frankreich eingewandert. Pizza und Pasta kamen aus Italien, wobei die Zutat Tomate aus Lateinamerika kommt. Die Grundzutat vieler typisch deutscher Gerichte, die Kartoffel, ist übrigens ebenfalls eine Latina. Muskat und Pfeffer kommen aus Ostasien.
Besonders Küche, Kunst und Mode sind ein einziger Melting Pot. Ohne kulturellen Austausch kein Jazz, kein Rap, kein Gospel, kein Blues, alles hat afro-amerikanische Wurzeln. Und auch diese Gruppen wurden von irgendwoher beeinflusst und verbanden Bekanntes und Unbekanntes, das sie zu neuen Interpretationen anregte. Der ganze Musikbereich ‚Weltmusik‘ ist ein kulturelles Crossover. Am Ende stammen wir als Menschen alle aus Afrika, wo die Menschheit ihren Anfang nahm.
Wenn also jedweder kulturelle Austausch, jede Anleihe aus einem anderen Kontext zur „Kulturellen Aneignung“ stilisiert wird, wird es irgendwann albern. Wenn wir uns über die Frisur einer jungen Musikerin aufregen oder über die Kostüme einer Seniorinnen-Tanzgruppe in einer Weltreise-Choreografie, dann lenken wir vom ernsten Kern der Sache ab: Kulturelle Aneignung als das Ausnutzen ungleicher Machtverhältnisse zum persönlichen Vorteil.
Wer bereichert sich an Kaffee und Kakao, wer an der Ausbeutung seltener Erden, wer an Diamanten? Diejenigen, die auf Plantagen oder in Minen schuften? Nein. Wie teuer müssten Kaffee, Kakao, Handys oder Jeans sein, damit diejenigen, die die Grundlagen für ihre Herstellung erarbeiten, faire Löhne, sichere Arbeitsbedinungen und gesunde Umweltstandards bekommen? Wie viel von unseren Wohlstand müssten wir dafür abgeben?
Kulturelle Aneignung ist es auch, wenn sich ein Mann die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse einer Frau aneignet und am Ende den Nobelpreis dafür kassiert, der eigentlich der Frau zugestanden hätte (Rosalind Franklin und die Entdeckung der Doppelhelix der DNA).
Im Musik- und Kunstbusiness kenne ich mich nicht genug aus. Aber ich bin sicher, es gibt zahlreiche Aneignungsgeschichten wie die von Rosalind Franklin aufgrund ethnischer Machtvorteile. Das ist das Problem. Und nicht Frisuren oder bunte Kostüme.
Gender, Gendergaga und Gender-Ideologie
Das Wort Gender allein reicht, um die Emotionen kochen zu lassen und eine Empörungswelle loszutreten. Egal, ob es um gendersensible Sprache geht oder um Geschlechtergerechtigkeit zwischen Männern und Frauen oder um die Transgender: Sag Gender und beobachte die Schlammschlacht, die folgt.
Eigentlich Material für Satire. Aber auch ziemlich lästig und nervig, jedenfalls für mich, weil ich mich ja ernsthaft und in der Sache mit verständlicher und fairer Sprache auseinandersetze sowie mit geschlechtlicher Vielfalt und Geschlechtergerechtigkeit.
Der Begriff „Gender“ ist eine Art Auffangbecken für gefühlte Ungerechtigkeit und Missstimmungen jeglicher Art. Überhaupt wird in der Debatte um Gender gerne alles Mögliche in einen Topf geworfen, umgerührt, bis eine undefinierte Pampe entsteht und dann pickt sich jed*er etwas heraus, worüber sier sich maximal empören kann – und zwar aus allen politischen Lagern.
Auf Seiten der Anti-Gender-Fraktion werden häufig Blinde, Sehbehinderte, autistische Menschen oder solche mit LRS benutzt, um gegen Gendersprache und Gendergaga zu wettern (siehe unten). Ein eigener Blogbeitrag zum Thema verständliche und barrierefreie Sprache steht auf der To-do-Liste. Bis dahin verweise ich auf diesen Linkedin-Beitrag über eine Studie dazu, welche Genderformen gut verstanden werden und wo Vorsicht geboten ist.
Dass ich von Rechten oder Radikal-Religiösen angefeindet werde, ist klar. Das geht seit Jahren so. Die mögen mich nicht. Ich mag die auch nicht. Beruht also auf Gegenseitigkeit. Wenn aber Radikal-Feminist*innen oder radikale Trans-Aktivist*innen auf mich losgehen, dann ist das beides im weitesten Sinne meine Hood – halt ohne radikal dabei – und das fühlt sich viel schmerzhafter an. Denn im Grunde wollen wir doch alle eine freie, emanzipierte Gesellschaft, befreit von Geschlechterstereotypen.
Radikal-Feminist*innen haben den Hang, Transfrauen generell zu kriminialisieren und Probleme, Transpersonen in ihrem Transgeschlecht zu akzeptieren. Bisweilen wird in verstörender Konsequenz zum Beispiel einem Transmann, der aussieht wir ein ganz normaler Mann, gesagt: Du bist aber eine Frau. Oder umgekehrt, einer Transfrau, die alles getan hat, um als Frau gelesen zu weden: Du bist aber ein Mann. Das finde ich unverschämt und respektlos.
Ich kann sehr gut verstehen, dass es wütend macht, als Frau ständig übergangen und überhört zu werden, was in dieser Debatte leider in erschreckendem Maße geschieht. Trotzdem: In ihrem Kampf um Gehör, vergessen sie bisweilen, sich klar gegen Rechte und Evangelikale abzugrenzen. Und das darf nicht sein.
Radikale Trans-Aktivist*innen labeln blind vor Aggression jeden noch so kleinen Widerspruch zu ihrer Weltsicht als rechts oder transfeindlich und versuchen aktiv, Stimmen zu verbieten, die nicht der queer-aktivistischen Lesart entsprechen (siehe unten).
Beide Strategien schaden feminstischen, weltoffenen, vielfältigen Perspektiven und helfen Rechten und Evangelikalen. Transmann Till Amelung brachte es im April in einem Zeit-Streitgespräch mit Jenny Wilken von der DGTI auf den Punkt: „Sie (Anmerkung: die Trans-Verbände) legen unseren Gegnern immer wieder Bälle auf den Elfmeterpunkt.“ (Die Zeit, Druckausgabe, 13. April 2023, Seite 12f)
Zum leidenschaftlich und ideologisch geführten Streit über die Zahl der Geschlechter habe ich einen eigenen Blogbeitrag geschrieben:
Genozid, genozidal, faschistoid, Nazi
Genozid ist kein neues Wort. Es entstand in der Folge des Holocausts, der Shoah. Die Nazis in Deutschland hatten extra Fabriken und Infrastruktur gebaut, um den Massenmord an 6 Millionen Juden effizent zu organisieren. Ermordet wurden außerdem politische Gegner*innen sowie Menschen, die aus welchen Gründen auch immer nicht der Rassen-Ideologie der Nazis entsprachen.
Der Begriff Genozid wurde vom jüdisch-polnischen Juristen Raphael Lemkin (1900-1959) geprägt, zusammengesetzt aus „genus“ (Herkunft, Geschlecht, Stamm, Volk) und „caedere“ oder „cide“ (schlagen, töten, morden). Genozid meint also Völkermord: Die Ermordung von Bosniaken in Srebrenica durch Serben (1995) oder die Ermordung der Tutsi durch Hutus in Ruanda (1994). Auch die Verfolgung und Ermordung von Armenier*innen Anfang des 20sten Jahrhunderts im Osmanischen Reich ist inzwischen als Völkermord/Genozid anerkannt.
Nach Lemkin ist das renommierte Global Raphael Lemkin Seminar for Genocide Prevention benannt, das sich der Prävention von Massenmord und Genozid widmet und mit „The Auschwitz Institute for the Prevention of Genocide and Mass Atrocities“ zusammenarbeitet.
Bedauerlicherweise hat sich eine kleine private NGO einen zum verwechseln ähnlichen Namen angeeignet und nennt sich Lemkin Institute for Genocide Prevention. Gegründet aus einem Projekt für den Irak, fällt es zunehmend dadurch auf, dass es missliebige Transgesetzgebung als Genoizid oder genozidal bezeichnet. Ich finde die republikanische Gesetzgebung in Florida zum Nachteil von Transinteressen auch falsch. Aber ein Gesetz, dass eine Transbehandlung untersagt, ist kein Genozid.
Den Begriff Genozid zu missbrauchen und umzudeuten, empfinde ich als unerträglich. Es ist eine Holocaust-Verharmlosung und verhöhnt die Opfer von Genoziden. Share on XDen Begriff Genozid zu missbrauchen und umzudeuten, empfinde ich als unerträglich. Es ist eine Holocaust-Verharmlosung und verhöhnt die Opfer von Genoziden.
Ähnliches passiert mit dem Begriffen Nazi, Faschist*in oder faschistoid. Wenn diese Wörter beliebig als Schimpfwort und Beleidigung verwendet werden, verlieren sie ihre Bedeutung und verwässern die Begriffe für ein rassen-ideologisches und rechts-totalitäres Menschenverständnis.
Außerdem: Wenn alle extrem sind, die von der eigenen Meinung abweichen, wird es höchste Zeit, den Extremismusgehalt der eigenen Meinung zu überprüfen.
TERF – Transexclusionary Radical Feminst
Der Begriff TERF ist die Abkürzung für Transexclusionary Radical Feminist. Ursprünglich bezeichnete er Feminist*innen, die Transgeschlechtlichkeit grundsätzlich ablehnen. Das sind nur sehr wenige der Feminist*innen, die sich kritisch zum Selbstbestimmungsgesetz äußern. Die meisten Kritiker*innen haben das Bedürfnis nach klaren Regeln, die neben Transrechten auch Frauenrechte, Lesben- und Schwulenrechte berücksichtigen oder haben Fragen, machen sich Sorgen. Also alles Aspekte, die in einer demokratischen Debatte auf den Tisch und besprochen gehören.
Inzwischen wird TERF im Sprachgebrauch für alle verwendet, die die Queertheorie kritisieren oder einfach nur Fragen stellen. Die Beschimpfung als TERF tritt häufig in Kombination mit faschistoid, rechts oder genozidal auf. Sie trifft auch Transpersonen und intergeschlechtliche Menschen, die dem Queer-Aktivismus kritisch gegenüberstehen.
Also wohlgemerkt: Der Begriff TERF richtet sich gegen Cis- wie Trans-Personen, die eine Theorie kritisieren oder Fragen stellen. Gleichzeitig dient der Begriff der Entmenschlichung der betroffenen Personen und zur Legitimierung von Gewalt gegen sie.
Auf Social Media, auf Hauswänden, Laternenmasten und auf Veranstaltungen tauchen Sätze auf wie „Kill TERFs“ oder „TERF, suck my big trans dick“. Das erste ist ein Mordaufruf, das zweite sexualisierte Gewalt. Beides: unerträglich.
Ich wünsche mir hier dringend eine klare Kante seitens politischer Parteien und Verbände gegen solche Gewaltaufrufe.
Die so im Diskurs auftreten, wollen eine Sachdebatte verhindern und versuchen, Menschen auszuschließen, zum Verstummen zu bringen und sie daran zu hindern, ihre Sichtweise in den Diskurs einzubringen (Cancel Culture).
Meine Empfehlung für dich: Vermeide diesen Begriff und sag sachlich, was du denkst und warum, ohne solche Zuschreibungen.
Woke, Wokie, Wokeness
Der Begriff woke, Wokie oder Wokeness wiederum wird von der rechtskonservativen und evangelikalen oder der radikal-feministischen Seite benutzt, um andere zu delegitimieren.
Woke kommt aus dem Englischen und bedeutet wachsam. Wachsam zu sein und sich zu bemühen, anderen in Fairness zu begegnen ist an sich etwas Positives. Aber im Sprachgebrauch hat sich die Bedeutung längst verschoben. Und woke wird als Kritik an identitätspolitschem Aktivismus verstanden.
Freilich gibt es Übertreibungen. Von einigen habe ich hier berichtet. Aber auch Übertreibungen können sachlich und wertschätzend benannt und diskutiert werden. Mit der Beschimpfung als woke wird genau das vermieden. Anstatt in der Sache zu argumentieren, wird gegen eine Person oder Personengruppe gehetzt.
Identitätspolitik und identitäre Politik
Identitätspolitik und identitäre Politik klingen sprachlich ähnlich und referieren dennoch auf gegenteilige politische Konzepte.
Identitätspolitik kommt eher aus dem linken Spektrum. Sie verweist darauf, Emanzipationsbestrebungen diskriminierter sozialer Gruppen zu unterstützen. Im Mittelpunkt stehen dabei Vorstellungen von Gerechtigkeit und Nicht-Diskriminierung. In ihren radikalen Auswüchsen jedoch wird sie problematisch. Hier ein Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung, der sich kritisch mit den Vor- und Nachteilen dieses Ansatzes beschäftigt.
Identitäre Politik dagegen ist ein Teil der rechten Agenda. Hier wird von einer Art Volks-Identität ausgegangen, die auf gemeinsame Vorstellungen von Familie, Tradition und patriarchaler Ordnung beruhen.
Beide Seiten sehen Sprache übrigens als relevant an. Gerade die, die dauernd behaupten, gendern sei Zeitverschwendung, verwenden viel Zeit auf das Thema. Henning Lobin geht in seinem Buch ausführlich auf die Sprachpolitik konservativer bis rechtsextremer Gruppen ein:
Allerdings gibt es auch auf der anderen Seite inzwischen radikale Vertreter*innen, die übergriffig ihre Sicht der Dinge erzwingen wollen.
Gruppen-Zuweisung und Kontaktschuld
Radikale Vertreter*innen unterschiedlicher politischer Sichtweisen tendieren zudem dazu, das Gegenüber im Plural anzusprechen. Sie ordnen es einer imaginären Feindgruppe zu und unterstellen gleichzeitig eine ganze Reihe von Einstellungen und Sichtweisen, ohne zu fragen oder zu prüfen, was die attackierte Person sagt oder denkt.
Ich kann einer Person in einem Punkt zustimmen, obwohl ich viele andere Punkte ablehne. Oder wir sind uns in vielen Punkten einig, aber in diesem Punkt vertreten wir unterschiedliche Ansichten. Diese normale alltägliche Erfahrung wird negiert und Leute werden in gruppenbezogene Ideologie-Schubladen gesteckt.
Beliebt ist auch, ganze Gruppen zu benutzen, um die eigene Ideologie zu untermauern, wie jüngst Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner, als er sich gegen Gendern in der Verwaltung ausssprach. Wegner benutzte Migrant*innen, und schob sie vor seine individuelle Abneigung gegen gendergerechte Sprache. Ausgerechnet ein Berliner CDU-Mitglied setzt sich „für Migrant*innen ein“. Glaubwürdig ist das nicht.
Häufig werden auch blinde Menschen benutzt, unbesehen der Tatsache, dass der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband sich längst dazu geäußert hat – und zwar anders als die Anti-Gender-Fraktion es gerne darstellt. Und natürlich sind die Positionen innerhalb von migrantischen oder blinden oder autischtischen Communities genauso bunt und vielfältig wie bei anderen gesellschaftlichen Gruppen.
Eine weitere destruktive Strategie ist die Kontaktschuld. Das bedeutet, eine Person wird dafür kritisiert, dass jemand, der ihr oder dem sie folgt, etwas gelikt oder kommentiert hat, das als „böse“ identifiziert wurde. Und auch hier werden dieser Person allerhand Einstellungen und Absichten unterstellt, wird all das, von dem der oder die Betroffene gar nichts weiß, dieser Person als Meinung und Absicht unterstellt.
Auch hier das Ziel: dämonisieren, ausgrenzen, eine Sachdebatte verhindern.
Wie können wir eine Sachdebatte führen?
Ohne Meinungsvielfalt gibt es keine Vielfalt. Aber wie können wir wieder dahinkommen, in der Sache miteinander zu streiten? Die wichtigste Kompetenz hierfür ist aus meiner Sicht die Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten auszuhalten, Ambiguitätstoleranz.
Paul Graham hat ein Modell vorgelegt, an dem sich die Qualität eines Widerspruchs messen lässt.
Die unteren drei (beleidigen, ad hominem und Tonfallbezug) gehen nicht auf die Sache ein, sondern richten sich gegen die Person, die etwas sagt. Der Widerspruch sagt im Grunde einfach „Nein“, ohne zu begründen. Nach oben werden die Begründungen differenzierter und komplexer.
In diesem Youtube-Video wird das Modell von Graham genau und mit Beispielen erklärt. Nimm dir die paar Minuten Zeit und schau es dir an:
Ich persönlich liebe ja Debatten in der Sache. Wenn alle die gleiche Meinung haben, ist es zwar gemütlich, aber auch langweilig. Ich bin auch nur ein Menschenkind und meine Sichtweise, mein Wertekodex, meine Erfahrungen, mein Gehirn interpretieren die Wirklichkeit aus ihrer Perspektive. Andere Sichtwiesen sehen andere Dinge oder gewichten anders. Wenn wir in der Sache debattieren, ist Widerspruch ein Gewinn für uns alle. Er erlaubt uns, mit den Augen einer anderen Person zu sehen und zu lernen. Das ist gelebte Vielfalt und schafft Raum für Akzeptanz.
In diesem Sinne: Lass uns konstruktiv streiten! Im besten Sinne für die Sache, eine freie, vielfältige, demokratische Gesellschaft.
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Bild: Grahams Pyramide ist von Wikipedia, gemeinfrei
1 Gedanke zu „Debattenkultur: Cancel Culture, Gender-Ideologie, TERF und mehr“