„So sieht Feminismus aus“ heißt der deutsche Titel von Lucy Delap. Der Untertitel: Die Geschichte einer globalen Bewegung. Der erste Teil des Titels ist meiner Ansicht nach eine Fehlübersetzung. Der englische Titel „Feminisms“, Feminismen, kündigt präziser an, was das Buch leistet. Denn darin geht es gerade nicht um „den Feminismus“ oder „sein Aussehen“. Es geht um eine Vielzahl feministischer Strömungen und Gesichter, weltweit, über 250 Jahre hinweg.
Delap zeichnet ein Mosaik aus unzähligen Aspekten; kleinteilig, bunt, vielseitig und doch ergibt es zusammen ein Bild. Vielleicht fehlt hier und da ein Steinchen. Und das Mosaik enthält Spannungen und Widersprüche. Aber es ist doch gerade die Dramaturgie eines Bildes, die zum Nachdenken anregt, als Inspirationsquelle dient, Entwicklungen ermöglicht.
Feminismus aus einer globalen Perspektive
In ihrer Einleitung erklärt Lucy Delap, warum sie diese globale Perspektive wählt. Das Bild des Feminismus ist bisher sehr von den Weißen Frauen Nordamerikas und Europas geprägt. Wenn Weiße US-Amerikanerinnen von der „Versklavung der Frau“ sprachen, meinten sie nicht die Frauen, die tatsächlich als Sklavinnen keinerlei Rechte hatten oder kolonial ausgebeutet wurden. Sie meinten sich selbst und dachten dabei oft genug selbst in rassistischen Kategorien. Gleiches gilt für die unterschiedlichen Perspektiven der Wohlhabenden und der Arbeiterinnen.
Delap geht auf Kolonisierung, Sklaverei, politische Umstürze und Realitäten ein, die feministische Perspektiven beeinflussen. Auch Nationalismus und Sozialismus, Reichtum und Armut sowie religiöse und moralische Überzeugungen, lokale Traditionen und Besonderheiten wirkten und wirken auf feministischen Aktivismus.
Zu Wort kommen neben amerikanischen und europäischen auch arabische, afrikanische, asiatische und indigene Feministinnen, religiöse und atheistische, Sklavinnen und Hausangestellte, Arbeiterinnen und Frauen aus der Upper Class, verheiratete und unverheiratete, Mütter und Kinderlose, lesbische, heterosexuelle, cis und trans.
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Dabei vermeidet Delap strikt eine Hierarchisierung. Alle Aktivitäten sind bedeutsam und eingebettet in ihren Kontext. Delap macht auch dort feministische Perspektiven aus, wo die Akteurinnen das Wort Feminismus vielleicht gar nicht kannten oder ihm eine Interpretation gaben, von der sie sich abgrenzten.
Delap geht darauf ein, dass es gerade nicht-privilegierte Personen deutlich schwerer haben, in den Jahrhunderten dokumentierte Spuren zu hinterlassen:
„Feminismus fand immer schon unter ungleichen Bedingungen statt, manche Stimmen wurden vielfach verstärkt, andere routinemäßig ignoriert.“
So wie Männer mehr Sichtbarkeit genießen als Frauen, genießen Weiße mehr Wahrnehmung als Schwarze, Wohlhabende mehr als Arme. In der intersektionalen Logik vermischen sich diese Formen von Privilegierung und Diskriminierung und verstärken sich gegenseitig.
Solche wenig privilegierten Stimmen holt Delap auf die Bühne und stellt sie gleichberechtigt neben die, die schon berühmt sind. Sie wechselt zwischen Nahaufnahmen einzelner Ereignisse und Persönlichkeiten und der Vogelperspektive, die solche Ereignisse in ein global vernetztes Geschehen einbindet und einordnet. Ihr Ziel:
„neue Lesarten feministischer Praktiken und Anschauungen von der Vergangenheit bis heute herausstellen zu können“.
Wann begann der Feminismus?
In euro-zentristischer Lesart kennen wir in der Geschichte zwei Phasen feministischer Bewegungen. Die erste Welle fand im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert statt. Die Hauptthemen waren in dieser Phase das Frauenwahlrecht sowie der Zugang zu höherer Bildung. Die zweite Welle verorten wir in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Hier ging es vor allen Dingen um sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung, also um die Freiheit, Sex zu haben, mit wem frau möchte, keinen Sex zu haben, wenn sie nicht möchte, um Verhütung und Abtreibungsrecht.
Aber ist diese Sichtweise global und historisch betrachtet angemessen? Nach der Lektüre von „So sieht Feminismus aus“ dürfen wir das bezweifeln. Es gab schon Frauen, die sich für Frauenrechte einsetzten, noch bevor es das Wort Feminismus gab.
Was wissen wir von feministischen Bewegungen jenseits unserer Bubble?
Welche Probleme haben Frauen der Arbeiterschicht in Indien? Welche Sichtweisen haben die Schwarzen Frauen Amerikas? Was denken Afrikanerinnen? Welche Forderungen stellten Indigene in den unterschiedlchen Kolonialgebieten der Erde? Welche Interessen artikulieren Frauen in China, Japan oder Indonesien? Welche feministischen Aktivitäten unternahmen und unternehmen Frauen aus muslimisch geprägten Ländern? Welchen Einfluss haben Religionen überhaupt auf feministische Bemühungen? Und wann und wo fing das mit dem Feminismus überhaupt an?
Delap schreibt, es sei schwierig, einen möglichen Ursprung feministischer Bewegungen zu finden. Sie schlägt zwei Daten Ende des 18. Jahrhunderts vor:
- 1799, die Rasheed (Rosetta) Women’s Conference in Ägypten (veranstaltet von einer Gruppe ägyptischer Frauen, die sich nach der französischen Invasion in Alexandria radikalisiert hatten, um über Arbeitsbedingungen sowie die Stellung der Frau in der Familie zu diskutieren)
- 1792 in Sierra Leone, als indigene Hauseigentümerinnen das Wahlrecht erhielten (wurde 1808 durch britische Kolonialisierung wieder abgeschafft)
Die Historikerin nimmt eine angenehm ruhige, sachliche und genaue Perspektive ein. Sie wertet nicht. Sie beobachtet und dokumentiert. Dazu gehören auch immer wieder die Konflikte und Spannungen, die zwischen unterschiedlichen feministischen Bestrebungen bestanden und bestehen. Immer wieder geht es um rassistische Motive, Klassenzugehörigkeit und die Definition von Geschlecht und Geschlechterrollen als solches, verbunden mit einer Hierarchisierung.
Feminismus: Ein Mosaik aus Träumen, Räumen, Konzepten, Dingen, Mode, Gefühle, Aktivismus und Klängen
Um den in der Einleitung beschriebenen Effekt eines Mosaiks zu erzeugen, weicht Delap von einer klassischen Gliederung etwa nach regionalen, sektionalen oder zeitlichen Kategorien ab. Sie sortiert also nicht nach Weltregionen, nicht nach Ethnien und nicht nach Epochen. Delap gliedert ihre Inhalte in acht Themen:
- Träume
- Konzepte
- Räume
- Objekte, Dinge, Gegenstände
- Mode
- Gefühle
- Aktivismus
- Lieder, Parolen, Klänge
In jedem dieser Kapitel spaziert Delap mit Leichtigkeit durch Jahrhunderte, über Kontinente, zwischen Kulturen, Klassen, Religionen und politischen Systemen. Sie blickt auf das Fokus-Thema und leuchtet die unterschiedlichen feministischen Aktivitäten danach aus.
Im Kapitel über feministische Mode dürfen natürlich das Bloomer-Kostüm und andere Formen von Reformkleidung nicht fehlen. Aber die Leistung von Delaps Beitrag ist gerade, dass sie keine lineare Betrachtung wählt.
Sie diskutiert, wieso Feministinnen männliche Schönheitsideale ablehnten, aber auch, wie solche klassischen Schönheiten, feministisch aktiv wurden:
Sie schreibt über die Wahl zur Miss Peru 2017. Die Models traten glitzernd und gestylt nacheinander ans Mikrofon und verkündeten Zahlen, allerdings nicht 90-60-90, sondern
„Statistiken über Femizide, Kindesmisshandlungen und Opfer häuslicher Gewalt in ihren Heimatregionen.“
Delap diskutiert die gesellschaftliche Fixiertheit auf weibliches Aussehen, die Waffentauglichkeit femininer Accessoires wie Hutnadeln, Männer in Kleidern und Crossdressing. Delap geht auch auf die Burkini-Debatte an Frankreichs Stränden ein und darauf, wie unterschiedlich Verschleierung bewertet wird.
Lucy Delap zeigt eindrucksvoll:
„…dass Feminismus nicht nur auf vielen verschiedenen Bühnen stattfinden und viele unterschiedliche Stimmen annehmen kann, sondern dass ein Diadem im Schönheitswettbewerb, ein Kopftuch und ein Reformkleid gleichermaßen Teil eines ‚feministischen Looks‘ sein können.“
Die Burkini-Debatte ist im Mai 2022 wieder brandaktuell. Kürzlich beschloss die südfranzösische Stadt Grenoble, es den Frauen freizustellen, was sie beim Baden an- oder ausziehen. Sie erlaubte jede Badekleidung für alle, von der Badehose mit obenrum frei bis zum Ganzkörperanzug (Burkini). Der Protest von Frankreichs Konservativen folgte prompt. Dabei ging es nicht um entblößte Busen. Sondern um Burkinis. Den Ganzkörperbadeanzug betrachten sie als Bedrohung der Freiheit des Abendlandes, als Übernahme durch den politischen Islam und wollen vor Gericht ziehen.
Ich kann da nur staunen und den Kopf schütteln. Ein Badeanzug als Bedrohung. Wovor haben die Angst?!
Und immer wieder: der weibliche Körper
Nicht nur in der Mode und den Kleidervorschriften steht der weibliche Körper im Mittelpunkt. Er ist es generell, der begehrt wird, benutzt, ausgebeutet und vor allen Dingen, männlicher Kontrolle unterstellt.
Der weibliche Körper ist männlicher Begierde und sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Und Frauen müssen dafür kämpfen, dass Gewalt über ihre Körper überhaupt als Straftat gilt. In vielen Ländern werden Frauen nach wie vor eher als Eigentum betrachtet, denn als Mensch. Oft genug landen Frauen unverschuldet in ausweglosen Abhängigkeiten und werden brutal missbraucht und ausgebeutet.
Ich picke dieses wenig bekannte Beispiel aus Japan und Korea heraus. Delap schreibt über Japanerinnen und Koreanerinnen, die gegen die in ihren Ländern staatlich geförderte Prostitution kämpften.
„Als japanische Siedler Ende des 19. Jahrhunderts in großer Zahl nach Korea kamen, florierte die Prostitution in koreanischen Häfen. Korea wurde 1905 schließlich japanisches Protektorat, und die Behörden führten ein offizielleres reglementierteres Sextourismus-System ein.“
Während des Pazifikkrieges (1937 bis 1945) wurden daraus sogenannte „Troststationen“ und die Frauen hießen „Trostfrauen“. Trost für die Frauen war damit nicht gemeint. Chinesinnen und Koreanerinnen wurden für japanische Soldaten zwangsprostituiert.
„rund drei Viertel der ‚Trostfrauen‘ starben in der Zeit ihrer Gefangenschaft oder wurden ermordet. (…) Die Gräueltaten (…) blieben bis Ende des 20. Jahrhunderts weitestgehend unbekannt.“
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das System einfach umgestellt auf Geschäftsbetrieb. Japan nutzte die Prostitution in Korea für Firmenevents und Männer-Pauschalreiseangebote. Und natürlich reisten auch US-Amerikaner und Europäer als Sextouristen nach Südkorea und auf die Philippinen.
Auf der einen Seite sollen Frauen also leicht bekleidet und für männliche Lust verfügbar sein. Gleichzeitig wird Frauen das Ausleben eigener Begierden verwehrt. Damit sie von Männern und oft genug auch den Frauen in ihren Familien nicht als „Müll“ betrachtet werden, müssen sie keusch bleiben und dürfen nur Sex mit ihrem späteren Ehemann haben. Selbstverständlich immer dann, wenn er will und nur dann, wenn er will.
Frauen werden als Objekte betrachtet, als Besitz, als nützliche Arbeitskraft und als wertvolle Ressource für die Produktion von Nachwuchs. Selbstbestimmte Geburtenkontrolle, also das Recht, selbstbestimmt zu entscheiden, ob und wann eine Frau Mutter werden möchte, sind bis heute hart umkämpft. Der freie Zugang zu Verhütungsmitteln und die Möglichkeit einer Abtreibung sind in vielen Ländern stark reglementiert, eingeschränkt oder sogar ganz verboten. Mehrere Länder, darunter Polen, Ungarn und einige US-Bundesstaaten haben in den letzten Jahren strenge Abtreibungsverbote erlassen, was vor allen Dingen Frauen aus prekären Verhältnissen schwer trifft.
Und wenn Männer sich nicht beherrschen und Frauen Gewalt antun, wurde (und wird vielerorts) nicht etwa der Mann bestraft. Nein: Die Frau soll zuhause bleiben. Die Frau soll sich anders anziehen.
Das passte Frauen in Leeds nicht und so gingen sie in den 70er Jahren unter dem Motto „Reclaim the night“ auf die Straße und plakatierten die Straßen mit einem gefälschten Polizeiaushang. Sie baten „alle Männer in West Yorkhire“
„mit Rücksicht auf die Sicherheit der Frauen, unbedingt ab 20 Uhr das Haus nicht mehr zu verlassen, damit Frauen das erledigen können, was sie zu erledigen haben, ohne Angst vor Ihnen haben zu müssen.“
Feministische Perspektiven sind vielseitig
Viele feministische Aktivitäten sind begleitet von einem feinsinnigen Humor. Ich musste immer wieder schmunzeln, so auch bei diesem Zitat von der us-amerikanische Radikalfeministin Andrea Dworkin, die in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts schrieb:
„Habt ihr euch jemals gewundert, warum wir keinen bewaffneten Kampf gegen euch führen? Es liegt wohl kaum daran, dass es in diesem Land nicht genügend Küchenmesser gibt. Es liegt daran, dass wir an eure Menschlichkeit glauben, allen Beweisen zum Trotz.“
Manche Aktionen sind friedfertig, andere voller Gewalt. Manche sind subversiv, andere offensiv, manche leise, andere laut. Das Buch zeigt, wie vielfältig die Methoden und Mittel des Widerstandes und des feministischen Kampfes sein können. Dabei zeigten sich Frauen immer wieder einfallsreich, kreativ und mutig. Manche Aktivistinnen haben ihr Engagement mit dem Leben bezahlt. Manche Projekte brachten kurzfristig nur wenig Veränderung, andere entscheidende Fortschritte.
So zum Beispiel in Island. Dort deklarierten isländische Feministinnen am 24. Oktober 1975 einen nationalen Ruhetag für Frauen. Grund waren mangelnde Anerkennung ihrer Leistungen im Haushalt und im Beruf sowie die im Vergleich zu Männern geringere Bezahlung. Geschätzte 90 Prozent der Isländerinnen beteiligten sich und weigerten sich, zu unterrichten, Zeitungen zu drucken, Reisende abzufertigen, Fische auszunehmen und so weiter. Das führte dazu,
„dass fast alle Schulen, Fabriken und der Handel geschlossen oder stillgelegt werden und Väter ihre Kinder mit zur Arbeit nehmen mussten. Im darauffolgenden Jahr verabschiedete das isländische Parlament die im Gesetz verankerte Gleichberechtigung beider Geschlechter und fünf Jahre später wurde die erste isländische Präsidentin gewählt.“
Delap beschreibt eindrücklich, warum die Aktivitäten und Aktionen von Feminist*innen im globalen Norden im globalen Süden auf Misstrauen und Kritik stießen. Sie bleibt dabei nicht in theoretischen Konzepten stecken, sondern macht es ganz konkret, zum Beispiel anhand der Verfügbarkeit von und dem Umgang mit Menstruationsprodukten. So feierten Frauen in Europa, Australien oder den USA Tampons als Befreiung von Binden und Stofflappen.
„In Canberra trugen Demonstrantinnen als Warnung an ihre Abgeordneten T-Shirts mit der Aufschrift: ‚Ich blute, und ich geh wählen.'“
Diese Perspektive war aber eben nur eine von vielen:
„In vielen Teilen der Welt blieben Tampons ein Tabu, und zwar dort, wo Frauen es problematisch fanden, ihr Geschlechtsteil zu berühren, oder wo es gesellschaftlich gefordert war, dass junge Frauen ein intaktes Hymen vorweisen mussten, um ihre Jungfräulichkeit zu beweisen, oder wo es sie schlichtweg nicht gab.“
Delap zeigt, wie die Kolonialisierung mancherorts vorhandene Frauenrechte beschränkte und zurückdrängte, wie etwa beim Volk der Igbo in Nigeria. Dort spielten Frauen vor allem bei der Produktion und dem Vertrieb von Palmöl eine wichtige Rolle, auch in der Öffentlichkeit.
„etwa im omu, das zuständig war für die Kontrolle der Markthändlerinnen und das parallel zum obi bestand, dem männlichen Pendant der Behörde. Eingriffe der britischen Kolonialmacht in diese Machtaufteilung arbeiteten darauf hin, das männliche obi zu stärken und das weibliche omu aufs Abstellgleis zu drängen.“
An manchen Stellen entpuppen sich scheinbare Gewissheiten als regional-historisch bedingte Narrative, die zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort anders interpretiert wurden:
„Tatsächlich empfanden feministische Aktivistinnen im 19. und 20. Jahrhundert nicht den Islam, sondern andere Religionen als bedrohlich für Frauen, vor allem die Gepflogenheiten der Hindus, Sikhs und der römisch-katholischen Kirche.“
Feminismus oder Feminismen: Das verbindende Element
Bei allen Verschiedenheiten feministischer Aktivitäten und Positionen, so haben sie doch stark verbindende Themen.
„rund um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und auf offener Straße sowie die Kampfansage an männliche Gewalt, Straffreiheit und Respektlosigkeit gegenüber Frauen.“
„Feminismus verstand sich immer schon als Aufforderung, sich intensiv damit auseinanderzusetzen, wie und warum eine Gesellschaft auf eine bestimmte Weise organisiert ist, und warum (manche) Männer mehr Autorität, mehr Ressourcen und lautere Stimmen haben als Frauen.“
Delap schreibt nicht, was der richtige Feminismus sei und was der falsche. Sie lädt dazu ein, die unterschiedlichen Perspektiven einzunehmen. Sie erinnert daran, dass wir Feminismen in ihrem jeweiligen Kontext betrachten müssen. Sie ermahnt uns, dass wir bestimmte Äußerungen mit unserer heutigen Brille möglicherweise gar nicht richtig interpretieren zu können. Sie verweist darauf, dass wir nicht alles ablehnen müssen, wenn wir Teile einer feministischen Strömung ablehnen und sie lädt uns ein, die Vergangenheit als Inspiration zu nutzen, um nach vorne zu schauen.
„Die Vergangenheit kann eine bedeutsame Resssource für Feministinnen sein, ohne alles gutheißen zu müssen oder damalige Einschränkungen und Gewalt zu reproduzieren. Feminist:innen aus anderen Epochen vertraten rassistisches Gedankengut, waren antisemitisch, anderen Gesellschaftsschichten gegenüber voreingenommen, betrieben kolonialen Imperialismus oder vernachlässigten Themen, die heutzutage Priorität haben. Der problematischen Vergangenheit sollten wir jedoch nicht ablehnend und desillusioniert begegnen, sondern sie als Vergleichsmöglichkeit, imaginäre Rekonstruktion und historisch fundierte Kritik heranziehen. (…) Es ist keine Überraschung, dass Frauen unterschiedliche Dinge wollen. Aber Feminismen stehen und fallen damit, wie wir uns ihre Vielfalt zunutze machen.“
Zu den aktuellen Konfliktlinien gehört sicherlich der Streit zwischen transkritischen und transbefürwortenden Feminist*innen. Wer das Buch liest, sieht, dass auch dieser Streit keineswegs neu ist, sondern die Frage der Aneignung auch in früheren Zeiten schon diskutiert wurde. Auf meiner To-do-Liste wartet hierzu ein eigener Blogartikel auf Umsetzung. Eine Blogartikel, der die relativ neuen Begriffe trans, cis, divers, nicht-binär und Gender erklärt, gibt es bereits.
Selbstkritik meiner feministischen Perspektiven
Nach der Lektüre des Buches habe ich meine eigene Definition von Feminismus hinterfragt und überarbeitet. Bisher war es für mich so: Es gab historische Figuren, die sich für Frauenrechte und Gleichberechtigung stark gemacht haben, von denen ich einige Namen mehr kannte, andere weniger. Dann gab es den Feminismus in der Lesart einer Alice Schwarzer, der mir immer schon zu eng und zu dogmatisch war und mit dem ich mich nie wirklich in Verbindung brachte. Und es gab den modernen Feminismus, wie ich ihn bei Laurie Penny und Margarete Stokowski kennengelernt hatte. Dieser war offener, genderfluider, hatte kein wir gegen die und will die engen Genderrollen, Stereotype, Zuschreibungen, patriarchalen Strukturen abbauen, damit Menschen aller Geschlechter sie selbst sein dürfen. Damit war ich fein. Das war mein Feminismus.
Nach der Lektüre des Buches merke ich, dass feministische Sichtweisen und Strömungen um einiges vielfältiger sind. Manche Positionen teile ich, andere lehne ich ab. Auch fiel mir auf, dass ich manches, was mich begeisterte, bisher gar nicht feministisch wahrgenommen hatte. Dazu zählen etwa die Riot Grrls in den 90er Jahren. Ich habe sie gefeiert, aber kam irgendwie nicht auf die Idee, sie unter die Definition Feminismus zu fassen.
Wenn mich künftig jemand fragt, was mit Feminismus gemeint sei, dann schreibe ich zwar weiterhin als Antwort, was ich darunter verstehe, aber ich werde es weniger so darstellen, als sei das die heutige Definition von Feminismus. Vielleicht verlinke ich hierher, zu diesem Blogbeitrag, um einen Scheinwerfer auf die Vielfalt von Feminismen zu richten.
Leseempfehlung? Unbedingt ja!
Lucy Delap ist Historikerin an der University of Cambridge, Forschungsschwerpunkt Feminismus, Alltagsgeschichte, Arbeiterbewegung, Religion und Inklusion.
Lucy Delap: So sieht Feminismus aus. Die Geschichte einer globalen Bewegung, aus dem Englischen von Alexandra Hölscher, Blessing 2022,, Link: https://www.penguinrandomhouse.de/Buch/So-sieht-Feminismus-aus/Lucy-Delap/Blessing/e588024.rhd
Ergänzende Links zur aktuellen Burkini-Debatte in Frankreich:
Tagesspiegel am 17. Mai 2022: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/von-oben-ohne-bis-burkini-grenoble-erlaubt-jede-form-von-bademode/28344978.html
Spiegel am 17. Mai 2022: https://www.spiegel.de/ausland/frankreich-gerald-darmanin-will-gegen-burkini-entscheid-in-grenoble-vorgehen-a-32d15a0a-f173-4703-bf00-0211700724ba
[openquestionmicro] 1. Wann begann der Feminismus? [closequestionmicro] Das ist schwer zu sagen. Lucy Delap verortet den Anfang des Feminismus in Afrika Ende des 18. Jahrhunderts.[endanswermicro]
[morequestionmicro] 2. Wie viele Feminismen gibt es? [closequestionmicro] Der Plural von Feminismus zeigt, dass feministische Strömungen nicht einem einheitlichen Konzept folgen, sondern viele unterschiedliche Perspektiven und Aktionen umfassen.[endanswermicro]
[morequestionmicro] 3. Was eint feministische Strömungen? [closequestionmicro] Das wiederkehrende Thema feministischer Strömungen ist sexuelle Belästigung sowie der Kampf gegen männliche Gewalt, Straffreiheit und Respektlosigkeit gegenüber Frauen.[endfaqmicro]
Bilder: Titelbild Sigi Lieb, Buchcover Blessing
1 Gedanke zu „Der Feminismus – die Feminismen – 250 Jahre Bewegung – global, vielseitig, divers (Rezension)“