Dawood Saeedi kommt aus Afghanistan und lebt mit seiner Familie seit 2015 im Rheinland. Dawoods Erzählungen aus seiner Kindheit berühren mich. Bereits damals war das Leben gefährlich. Dawood studierte in den 80er Jahren in der damaligen DDR und arbeitete in Afghanistan für die Bundeswehr. Aus diesem Grund musste er fliehen. Was der 47-jährige nicht erzählt, aber was mich bedrückt, ist, wie wenig das offizielle Deutschland Menschen wie ihn unterstützt, die lange für die Bundeswehr gearbeitet und für uns letztlich ihr Leben riskiert haben.
Interview:
Wie würdest du deine Einstellung zum Thema Identität oder Identitäten beschreiben? Hat sie sich im Laufe deines Lebens verändert?
Identität bedeutet für mich Heimat, Kultur, Sprache, wo man nicht anonym lebt und wo man akzeptiert wird. In meiner alten Heimat war ich Offizier und Lehrer, ich hatte eine gute Arbeit, war akzeptiert und respektiert. Ich kannte viele Leute, war anerkannter Teil der Gesellschaft. In Deutschland bin ich Flüchtling und ein einfacher Arbeiter. Man muss hier ganz von neu anfangen. Und je älter man ist, umso schwerer ist dieser Neuanfang.
Bist du oft umgezogen? In welchen Ländern und an welchen Orten hast du gelebt?
Durch den Krieg in Afghanistan bin ich in meiner Heimat oft umgezogen. Als die Taliban kamen, bin ich in den Iran geflohen. Im Ausland habe ich etwa fünf Jahre mit meiner Familie im Iran gelebt und in einer Baufirma als Vorarbeiter gearbeitet. Dann war ich wieder in Afghanistan und habe für die Bundeswehr gearbeitet. Seit März 2015 wohnen wir in Erftstadt in Deutschland. Wenn man flieht, lässt man alles zurück. Man verliert seine Identität, seine Persönlichkeit. Share on X
Gibt es eine Phase in deinem Leben, in der du dich stark umstellen musstest, weil plötzlich alles anders war? Was war das Schwierige?
Ja, in Deutschland. Die Kultur ist fremd für meine Familie, die Sprache, das Land. Ich finde das positiv. Für mich war es auch nicht so schwer und fremd, weil ich in der ehemaligen DDR studiert und 13 Jahre für die Bundeswehr in Afghanistan im Rahmen ISAF gearbeitet habe. Aber für meine Familie war es sehr schwer, besonders für meine Frau. In Deutschland ist alles anders als in Afghanistan: Sprache, Kultur, Freiheit, Leben, Essen, Aussehen. Manchmal hat sie großes Heimweh. Inzwischen wird es besser. Die Kinder sind gut in der Schule angekommen. Meine Frau übt für die B1-Prüfung. Sie hat in Afghanistan als Grundschullehrerin gearbeitet. Sie mag die Freiheit hier. Sie mag auch die direkte deutsche Art und die Kultur. Niemand schaut komisch, wenn man gebrauchte Kleider trägt. Das ist in Afghanistan anders. Da machen das nur arme Leute und die schämen sich dafür. Aber in Afghanistan waren wir nicht arm. Ich hatte ja eine gute Position.
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Denk bitte an deine Grundschulzeit. Welche Bilder, Gefühle und Erlebnisse aus dieser Zeit sind dir präsent? Was ist dir aus deiner Jugend als besonders wichtig in Erinnerung?
Aus der Grundschule habe ich keine Bilder, sie sind während des Krieges in Afghanistan verloren gegangen und teilweise haben meine Eltern sie vernichtet. In Afghanistan wurden damals die Häuser mal durch die Regierungsleute und mal durch Mudjahedin durchsucht. Die Mudjahedin erlaubten den Kindern nicht, in die Schule zu gehen und die Familien haben ihre Kinder heimlich zur Schule geschickt.
Einmal auf dem Weg nach Hause wurden ich und zwei andere Schüler von Mudjahedin auf Pferden angehalten. Sie wollten wissen, ob wir aus der Schule kommen, aber wir hatten sie vorher auf den Pferden gesehen und unsere Schulmaterialien in den Bach geworfen. Wir sind am Bach gesessen haben Wasser getrunken und dabei die Schulsachen in den Bach geworfen. Trotz aller Schwierigkeiten wollten wir gerne in die Schule gehen, als meine Eltern das von uns gehört haben, haben sie sich Sorgen gemacht und beschlossen, die Ortschaft zu verlassen. Wir sind in die Provinzhauptstadt Maimana umgezogen. Nachts sahen wir mehr Leuchtpatronen als Sterne und lebten mit der Angst.
Von der 9. Klasse bis zur 12. Klasse bin ich in der Hauptstadt Kabul in die Schule gegangen und nach dem Abitur kam ich durch ein Stipendium nach Deutschland und habe in der ehemaligen DDR im Bereich Pionierwesen (Militär) studiert und meinen Abschluss gemacht. An die Zeit in der DDR habe ich sehr gute Erinnerungen. Es gab keinen Krieg mehr, Ruhe, die Bevölkerung war sehr freundlich, die Lehrer und die Umgebung, alles waren sehr schön und interessant. Die Zeit vergesse ich nie.
Was bedeutet für dich Heimat und wo fühlst du dich heute zuhause? Welche Bilder, Gerüche oder Gefühle verbindest du mit dem Begriff Heimat?
Heimat ist für mich dort, wo man seine Ruhe, Familie, Persönlichkeit, Identität hat. Share on X Wo man durch die Bevölkerung akzeptiert wird, wo man gehört wird, die Sprache und die Kultur versteht. Es ist gelogen, wenn ich sagen würde, ein fremdes Land sei meine Heimat. Aber ich versuche, es als Heimat anzusehen. Die Natur, die Landschaften, das Wetter hier in Deutschland genieße ich sehr. Ich bin dankbar, dass ich hier in Sicherheit lebe, dass meine Kinder eine Zukunft haben, dass ich eine Arbeit habe, wenn auch meine Ausbildung und Berufserfahrung nicht anerkannt werden und ich nur als einfacher Arbeiter beschäftigt bin, und auch wenn mir wegen meines Alters der Weg in eine Ausbildung versperrt ist. Ja, man kann Deutschland meine zweite Heimat nennen. Unsere Kinder werden hier erfolgreich sein und der deutschen Gesellschaft etwas zurückgeben.
Stell dir vor, du musst wegziehen in eine weit entfernte Stadt oder sogar in ein anderes Land. Welche drei Dinge brauchst du unbedingt, damit du am neuen Ort ankommen kannst?
Meine Familie, meine Kultur und meinen Laptop.
Die Frage „Woher kommst du eigentlich?“ ist in Deutschland alltäglicher Gegenstand von Smalltalk. Jeder vorhandene oder fehlende Dialekt oder Akzent, das Aussehen und andere Merkmale werden zum Anlass von Fragen, manchmal aus Neugierde, manchmal um über etwas anderes als das Wetter zu reden und manchmal belastet von Vorurteilen und Erwartungen. Was denkst du über die Frage und wie gehst du damit um, wenn du auf deine Herkunft angesprochen wirst?
Ich werde immer mit Stolz antworten, dass ich aus Afghanistan komme. Ich kenne Leute, die wollen am liebsten ihren afghanischen Pass verbrennen. Aber bei mir ist es nicht so. Ich bin stolz. Ob das akzeptiert wird oder nicht, ist mir egal.
Gibt es andere Fragen als die nach der Herkunft, die du gefühlt jedes Mal gestellt bekommst, wenn du auf neue Menschen triffst? Welche und was machst du, wenn du davon genervt bist?
Was mir weh tut, sind die Vorurteile gegenüber Muslimen. Nicht alle Muslime sind Terroristen. Es nervt, wenn irgendwo auf der Welt ein Anschlag verübt wird und sofort alle Muslime dafür verantwortlich gemacht werden. Im Koran steht: Wenn dein Nachbar ein Ungläubiger ist, musst du ihn wie einen Gläubigen behandeln. Wenn man nur einzelne Textstellen herausnimmt und interpretiert, hat man nicht verstanden, was gemeint ist. Man muss den ganzen Text lesen. Wir müssen einander akzeptieren und tolerant sein. Das ist die Religion, die ich meine. Share on X
Gibt es einen Glaubenssatz, der dich leitet und begleitet?
Denke an die positive Seite des Lebens, damit du glücklich leben kannst. Wenn du respektiert werden willst, respektiere die anderen.
Was ist für dich die größte Herausforderung unserer derzeitigen Gesellschaft?
Meine Kinder sollen ihre Sprache, ihr Land, ihre Kultur, ihre Religion nicht verlieren. Weil in unserer Religion viele gute Dinge sind, zum Beispiel: ältere Leute respektieren, Mann und Frau, besonders die Eltern, friedlich leben, Toleranz, Dankbarkeit für das, was man hat, Bescheidenheit, Frauenrechte, aber nicht das, was die Fundamentalisten, also Taliban, Mudjahedin, Isis und so weiter sagen und machen.
Wenn du die freie Wahl hättest, wo möchtest du gerne leben?
In Deutschland, weil ich durch mein Studium in der ehemaligen DDR und meine Arbeit von 2002 bis 2015 bei der Bundeswehr als Sprachmittler in Afghanistan das Land, die Sprache und die Kultur kannte.
* Vielen Dank für das Gespräch.
** Die meisten Bilder wurden von Dawood Saeedi zur Verfügung gestellt. Das Titel-Landschaftsbild aus Afghanistan darf ich mit freundlicher Genehmigung des Fotografen Jamshid Karimi veröffentlichen. Danke an Eshaq Yacoubi für die Vermittlung.
1 Gedanke zu „Identität – Wenn man fliehen muss, verliert man seine Identität – Folge 22“