Elke Speidel ist Fachjournalistin, Schriftstellerin und Verlegerin. Elke ist das, was man Rumäniendeutsche nennt. Also deutschstämmig mit ursprünglich rumänischem und seit über 40 Jahren deutschem Pass. Die Verwirrung wird schon beim Geburtsort klar, den Elke mit vier Namen vorstellt: Ognitheln (siebenbürgisch-sächsisch), Agnetheln (deutsch), Szentágota (ungarisch) und Agnita (rumänisch). Sie ging in eine bilinguale, rumänisch-deutsche Schule und siedelte mit 18 Jahren nach Deutschland, wo sie ihr Abitur machte und im Laufe der Jahre in unterschiedlichen Bundesländern lebte. Heute wohnt die 60-jährige in Münster in Nordrhein-Westfalen. Ihre Antworten auf die Frage nach der Identität lassen erahnen, welche Verstrickungen sich in scheinbar einfachen Small-Talk-Fragen verstecken können.
Interview:
Wie würdest du deine Einstellung zum Thema Identität oder Identitäten beschreiben? Hat sie sich im Laufe deines Lebens verändert?
Über Identität als Begriff habe ich est in meinem späten Studium bewusst nachgedacht. Tatsächlich hat sich aber das, was mich aus meiner eigenen Sicht im Wesentlichen ausmacht im Lauf des Lebens geändert. Ich habe meine Lebens-, Sozialisations- und Kulturisationserfahrungen, die ich als 18-jährige aus Rumänien nach Deutschland mitbrachte, nach ein paar vergeblichen Versuchen der Einordnung ins vorgefundene System in mir verkapselt und noch einmal neu angefangen, mich zu orientieren. Dass ich damit nur ein halbes Ich war, merkte ich erst 1991 in Caputh bei Potsdam, als plötzlich meine alten Erfahrungen sich in bestehende soziale Umwelten einsortieren ließen. Denn in den Gebieten der ehemaligen DDR gab es viele Begriffe und Erfahrungen, die denen in Rumänien ähnlich waren. Damals habe ich meine beiden identitären Hälften wieder zusammenbekommen. Viele Menschen, die nach der deutschen Vereinigung von Ost nach West oder von West nach Ost gegangen sind, haben die neuen Erfahrungen als Vervollständigung erlebt.
Bist du oft umgezogen? In welchen Ländern und an welchen Orten hast du gelebt?
Ich habe nicht in vielen Ländern gelebt, nur in Rumänien und auf beiden Seiten Deutschlands, dort jeweils in verschiedenen Bundesländern, in Dörfern, Kleinstädten und Großstädten, wie es sich ergab. Mit 18 ging es von der rumänischen Kleinstadt mit meinen Eltern und meiner gesamten Großfamilie nach Deutschland, zunächst in Durchgangslager in Nürnberg und Raststatt und ins Übergangswohnheim nach Heilbronn, wo ich die 12. Klasse Gymnasium besuchte. Mein Abitur machte ich in Waiblingen bei Stuttgart, wo ich relativ lange lebte und wo meine Tochter geboren wurde. Danach ging es nach Wesseling in Nordrhein-Westfalen und von dort 1991 nach Berlin und Brandenburg. Da mein Mann Berufssoldat war, zogen wir häufig um. Von Caputh bei Potsdam ging es zurück nach Wesseling, dann nach Leipzig und Münster, wo ich heute lebe und wo auch meine Tochter und mein Enkelkind wohnen.
Gibt es eine Phase in deinem Leben, in der du dich stark umstellen musstest, weil plötzlich alles anders war? Was war das Schwierige?
Es gab mehrere solcher Phasen. Die Aussiedlung war eine davon, der Umzug ins Land Brandenburg war eine weitere. Fast am schwierigsten fand ich den Umzug von Brandenburg nach Nordrhein-Westfalen, obwohl auch schon der Umzug von Baden-Württemberg nach Nordrhein-Westfalen eine Art Kulturschock war. Was schwierig war? Dass die Menschen nicht nur keine Ahnung von meinen bisher gemachten Erfahrungen hatten, sondern dass sie sich auch nicht ansatzweise dafür zu interessieren schienen. Das war vor allem (vielleicht per Zufall) in Nordrhein-Westfalen so, ansatzweise auch in Baden-Württemberg, aber lange nicht in diesem Ausmaß. Völlig anders habe ich es in Brandenburg und Sachsen erlebt, dort verhielten sich die Menschen mir gegenüber aufgeschlossen und interessiert, wenn es auch oft zu harten Diskussionen kam. Es KAM zu Diskussionen. Ich wurde nicht ignoriert und links liegengelassen.
Ich investiere viel Arbeitszeit in meine Blogbeiträge, beachte journalistische Kriterien und stelle viel weiterführende Information zur Verfügung. Das alles stelle ich kostenlos für alle zur Verfügung – ohne bezahlte Werbung auf meiner Seite. Aber natürlich muss auch ich im Supermarkt mit Euros bezahlen. Daher freue ich mich, wenn du meine ehrenamtliche redaktionelle Arbeit unterstützt.
Denk bitte an deine Grundschulzeit. Welche Bilder, Gefühle und Erlebnisse aus dieser Zeit sind dir präsent? Was ist dir aus deiner Jugend als besonders wichtig in Erinnerung?
Hm. Ich war krank, als ich „Pionier“ werden sollte. Das war in der dritten Klasse. So war ich nicht bei der ersten Charge, was ich als hart empfand, denn es wurde uns als Auszeichnung für gute schulische Leistungen verkauft. Es hat mir Spaß gemacht, meinen Eid auf das rumänische Vaterland mit einer bunten Blumengirlande zu schmücken. Diesen Eid mussten wir leisten, um Pionier werden zu dürfen. Einmal, das muss auch in der Grundschulzeit gewesen sein, sollte der Nachfolger für den Staatschef gewählt werden (Gheorghe Ghiorghiu-Dej war gestorben). Im Gespräch war unter anderem ein gewisser Ion Gheorghe Maurer (neben dem später gewählten Nicolae Ceauşescu). Ich sagte abends zu meiner kleinen Schwester im Bett, wie einer so blöd sein könne, nicht Staatschef werden zu wollen, weil ich gehört hatte, dass Maurer sich weigerte. Da erhielten wir eine Lektion im Maulhalten, denn wenn ich etwas Derartiges in der Schule geäußert hätte, wären meine Eltern möglicherweise eingesperrt worden. Ab dem Moment wollte ich weg aus diesem Land.
Was bedeutet für dich Heimat und wo fühlst du dich heute zuhause? Welche Bilder, Gerüche oder Gefühle verbindest du mit dem Begriff Heimat?
Heimat bedeutet für mich Enge und Zwang. Wenn ich irgendwo zu viele Leute und zu viele Wege kenne, habe ich das Bedürfnis, wegzuziehen. Heimat riecht nach Kuhstall und Schweinestall, nach schlechten Benzin und verfaultem Leder, das den Bach vergiftet. Heimat bedeutet Reise- und Redeverbote, bröckelnden Putz von bunten Fassaden, Schlangestehen vor der Apotheke für ein Päckchen Watte, nur mit Glück an Kostbarkeiten wie Zucker, Öl oder Butter kommen, Schokolade, die mit Salz statt Zucker gewürzt ist, alle drei Wochen eine Abschiedsfeier bei irgendeiner ausreisenden Schulkameradin. „Wahre Freundschaft soll nicht wanken, wenn sie gleich entfernet ist …“ als Ständchen. Und so gut wie niemals wieder etwas voneinander erfahren.
Stell dir vor, du musst wegziehen in eine weit entfernte Stadt oder sogar in ein anderes Land. Welche drei Dinge brauchst du unbedingt, damit du am neuen Ort ankommen kannst?
Ich habe mehr als drei Personenstandsurkunden, die ich wohl so gut wie überall bräuchte, um anzukommen. Und weil ich gierig bin, hätte ich auch gern die Daten aus meiner Cloud noch obendrauf. Nein, mit drei Dingen käme ich nicht aus, fürchte ich.
Die Frage „Woher kommst du eigentlich?“ ist in Deutschland alltäglicher Gegenstand von Smalltalk. Jeder vorhandene oder fehlende Dialekt oder Akzent, das Aussehen und andere Merkmale werden zum Anlass von Fragen, manchmal aus Neugierde, manchmal um über etwas anderes als das Wetter zu reden und manchmal belastet von Vorurteilen und Erwartungen. Was denkst du über die Frage und wie gehst du damit um, wenn du auf deine Herkunft angesprochen wirst?
Ich kann mit dieser Frage wenig anfangen, weil ich nicht genau weiß, wie sie gemeint ist. Ich weiß nicht, wo ich EIGENTLICH herkomme. Meist sage ich erst den Ort, aus dem ich gerade angereist bin, wenn weiter gebohrt wird, nenne ich den Ort, aus dem ich beim letzten Umzug zugezogen bin. Lässt jemand gar nicht locker, nenne ich meine Geburtsregion: „Geboren bin ich in Rumänien, ich bin 1974 von dort ausgewandert.“ Manchen reicht das immer noch nicht. Dann muss ich erklären: „Ja, wir haben in der Familie deutsch geredet. Nein, ich bin keine Schwäbin, ich bin Siebenbürger Sächsin. Nein, mit Sachsen hat das nichts zu tun.“ Und all diese Antworten haben nach meinem eigenen Verständnis ihrerseits mit mir auch nicht viel zu tun. Sie helfen den meisten Leuten auch nicht, mich „einzuordnen“. Ich rede wirklich lieber über das Wetter. Identität und soziale, ethnische, sprachliche, religiöse Herkunft ist für mich kein Smalltalk-Thema, das man mal eben anschneidet, um überhaupt etwas zu sagen. Es ist ein wenig so, als würde man gefragt: „Du hast blaue Flecken im Gesicht. Ist das Make-up, hast du vergessen, dich zu waschen oder ist das eine ansteckende Krankheit?“ Und das als Smalltalk.
Gibt es andere Fragen als die nach der Herkunft, die du gefühlt jedes Mal gestellt bekommst, wenn du auf neue Menschen triffst? Welche und was machst du, wenn du davon genervt bist?
Ich weiß nicht. Vielleicht: „Sind Sie berufstätig?“ ohne das leiseste Interesse daran, welchen Beruf ich wirklich ausübe. Wenn ein Interesse da ist, spreche ich gern darüber, aber manche Menschen, besonders in Nordrhein-Westfalen ist mir das bisher passiert, fragen dann: „Warum? Verdient Ihr Mann nicht genug?“ respektive neuerdings: „Reicht Ihre Witwenrente denn nicht zum Leben?“ Bei solchen Versuchen pflege ich so höflich wie möglich das Thema zu wechseln. Ich mag niemanden missionieren.
Gibt es einen Glaubenssatz, der dich leitet und begleitet?
„Wenn du Dinge loslassen kannst, hast du zwei Hände frei.“ Das ist derzeit mein Lieblingsspruch. Ich habe ihn im Nachlass meines Mannes gefunden, handschriftlich auf einen Fresszettel gekritzelt, mit dem Vermerk in Klammern: „Chinesisches Sprichwort?“.
Was ist für dich die größte Herausforderung unserer derzeitigen Gesellschaft?
Als größte Herausforderung sehe ich es an, den Kulturpessimismus in den Griff zu bekommen.
Wenn du die freie Wahl hättest, wo möchtest du gerne leben?
In der Nähe meiner Tochter und meiner Enkelin. Und falls die mich nicht mehr brauchen, in der Nähe meiner alten Eltern, das ist gleichzeitig in der Nähe des Friedhofs, auf dem mein Mann begraben ist. Und, Gott dem Herrn sei Dank, ich HABE die freie Wahl.
Vielen Dank für das Gespräch.
* Alle Fotos wurden von Elke Speidel zur Verfügung gestellt.