Doreen Köstler hat immer in Deutschland und doch in zwei Staaten gelebt. Die 45-Jährige ist in der DDR aufgewachsen und kam nach der Wende ins Rheinland. Neben ihrem Job als Texterin und Lektorin vernetzt sie selbstständige Frauen und fährt leidenschaftlich gerne Rad. Ihre Antworten bringen uns zurück in die Wendezeit mit Demonstrationen, Angst und vielen Vorurteilen, die nach dem Mauerfall zwischen Wessis und Ossis herrschten. Sie zeigen aber auch, dass die Zeiten sich ändern. Lest selbst.
Interview:
Wie würdest du deine Einstellung zum Thema Identität oder Identitäten beschreiben? Hat sie sich im Laufe deines Lebens verändert?
Über Identität habe ich mir, ehrlich gesagt, noch nie viele Gedanken gemacht. Ich bin ich, in unterschiedlichen Lebensstufen, mit immer mehr Erfahrung. So wie ich akzeptiert werden möchte, wie und was ich bin, akzeptiere ich alle anderen. Das war schon immer so, daran hat sich nichts geändert. Geprägt bin ich sicher durch die Werte, die meine Familie mir vorgelebt und mitgegeben hat – bedingungslose Liebe und Unterstützung, Vertrauen, Zusammenhalt. Und sicher spielt auch hinein, dass ich in der DDR großgeworden bin. Oder vielmehr: dass ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin, wo jeder jeden kennt.
Bist du oft umgezogen? In welchen Ländern und an welchen Orten hast du gelebt?
Umgezogen bin ich oft, aber immer nur innerhalb Deutschlands. Geboren wurde ich in Lutherstadt Wittenberg, meine Kindheit habe ich in den sachsen-anhaltinischen Kleinstädten Jessen und Kemberg verbracht. Nach der Schule wurde ich sehr mobil. Ich habe mal nachgezählt: Allein von 1989 bis 2008 komme ich auf acht Umzüge: aus dem Elternhaus zum Studium ins Studentenwohnheim erst nach Potsdam und dann nach Leipzig, von dort nach Halle (Saale). Von 1999 bis heute habe ich mich dann etappenweise meinem jetzigen Zuhause Düsseldorf – hier lebe ich seit 2008 – geografisch immer weiter angenähert.
Gibt es eine Phase in deinem Leben, in der du dich stark umstellen musstest, weil plötzlich alles anders war? Was war das Schwierige?
Da gab es einige. Nach der Scheidung meiner Eltern, als ich sechs Jahre alt war, musste ich mich in einer neuen Stadt einleben. Sich gefühlt von heute auf morgen in eine neue Umgebung einfügen, neue Freunde finden, das war mit sechs nicht einfach. Aber der größte Umbruch war auf jeden Fall die Wende – das ist für die meisten ein kleiner, überschaubarer Zeitraum von vielleicht sechs, sieben Monaten, aber das war wirklich ein Umbruch, der mich bis heute prägt. Menschen, die ich mochte, waren plötzlich weg, weil sie in Ungarn, Polen oder Tschechien auf ihre Ausreise gewartet haben. Ich konnte deren Motivation grundsätzlich verstehen, aber die Flucht kam mir trotzdem feige vor – idealistisch, wie man mit 16/17 vielleicht ist. Dann fanden ab September/Oktober 1989 die Montagsdemonstrationen und Friedensgebete in Leipzig und Wittenberg statt – natürlich auch anderswo, aber das war mein Einzugsgebiet, wenn man so will. Ganz ehrlich: Ich war bei beidem dabei und hatte speziell in Leipzig bei den Montagsdemos richtig Schiss, weil wirklich niemand wusste, was passiert und welche Konsequenzen das alles hat. Ich war auch erschrocken, als im Laufe der Demos plötzlich Rufe nach einem einigen Deutschland den Ton angaben. Ein einiges Deutschland – wollte ich das, was heißt das denn? Sollte nicht vielmehr versucht werden, die DDR demokratisch umzubauen? Mit Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit? Schwierig. Aber die Geschichte hat mich sowieso eingeholt: Dass die Einheit am 3. Oktober 1990 vollzogen wird, davon habe ich beim Nach-Abi-Urlaub mit Freunden in Bulgarien erfahren. Etwa zur selben Zeit habe ich einen ehemaligen Soldaten kennengelernt, der bei den Montagsdemos in Leipzig noch Schießbefehl hatte – er sagte, er hätte nicht geschossen und hatte genauso Angst vor einer Eskalation wie ich. Auch heute noch kann ich keine Dokumentation über die Wendezeit angucken, ohne mindestens eine Taschentuchpackung in der Nähe zu haben – mich reißt es immer wieder von den Beinen. Die Zeit war einfach unglaublich intensiv, alles schien möglich. Der nächste große Umbruch kam dann neun Jahre später: Ich war gerade in die „alten Bundesländer“ umgezogen und die Einheit zumindest in meinem Kopf längst angekommen – und war trotzdem plötzlich mit zig Vorurteilen von „Wessis“ gegen „Ossis“ (allein die Wörter …) konfrontiert. Besonders von meinem ehemaligen Chef. Nein, zumindest das erste Jahr in meinem neuen Zuhause war keine schöne Zeit.
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Denk bitte an deine Grundschulzeit. Welche Bilder, Gefühle und Erlebnisse aus dieser Zeit sind dir präsent? Was ist dir aus deiner Jugend als besonders wichtig in Erinnerung?
Das ist so vieles, das kann ich nicht auf bestimmte Bilder, Gefühle oder Erlebnisse beschränken. Die Grundschulzeit ist eigentlich nur mit Wärme und Kuscheligkeit weichgezeichnet – mit ein paar Ausreißern. Nachhaltig ist für mich ein Erlebnis 1985: Eine Schulfreundin und ich waren Fans von Boris Becker, der gerade als jüngster Spieler Wimbledon gewonnen hatte. Ein mühevoll abgetipptes Interview mit ihm brachte mich vor den Direx unserer Schule – ich kann bis heute nicht verstehen, was die Leistung eines Sportlers im Vergleich zu anderen schmälert, nur weil er auf der „anderen Seite“ stand und einen „kapitalistischen Sport“ betrieb. Genauso konnte ich nie verstehen, warum es in den sogenannten Bruderländern Produkte wie Nivea ganz normal zu kaufen gab – waren wir etwa anders? Fragen danach resultierten wahrscheinlich auch im „ausgeprägten Gerechtigkeitssinn“ – ein Urteil, das sich durch meine Schulzeugnisse zog. Geschichten von unserer Wehrerziehung sorgen heute noch für Kopfschütteln und den einen oder anderen ungläubigen Lacher: Wir Mädchen haben Erste Hilfe gelernt, in voller Montur inklusive Gasmaske Evakuierungen geübt und mit Handgranatenattrappen geworfen. Das ist, als ob man Märchen aus einer längst vergangenen Zeit erzählt. Und zwischendrin? Hatte ich eine behütete Kindheit und Jugend: Ich war viel draußen, habe mich mit Freunden getroffen und im Schulchor gesungen und wenn ich meinen Akkordeonunterricht verpasst habe, weil ich lieber Tischtennis gespielt und darüber die Zeit vergessen habe, gab es Ärger mit Mutti. Im Sommer ging’s zig Wochen ins Ferienlager, im Frühling und im Herbst war ich mit meiner Mama in der Tschechei wandern. Alles ganz normal.
Was bedeutet für dich Heimat und wo fühlst du dich heute zuhause? Welche Bilder, Gerüche oder Gefühle verbindest du mit dem Begriff Heimat?
Heimat ist für mich nach wie vor Kemberg. Obwohl: Es gibt einen typischen Holzgeruch, den ich ewig mit dem Forsthaus in Jessen verbinden werde. Ich kann ihn nicht beschreiben, weiß nur, dass er typisch für den Holzstall meines Vaters war, und wenn ich ihn irgendwo erschnüffle, ist er für mich ein Stückchen Heimat. Trotzdem: Heimat fernab jeglicher Gerüche ist für mich immer Kemberg. Wenn ich aus der Ferne den Kirchturm sehe, weiß ich, ich bin gleich da, und freue mich wie ein kleines Kind – das war immer so und wird immer so bleiben. Mein erster Weg führt mich jedes Mal in den Garten meiner Mutter, ich nehme auf, was sich verändert hat, aber auch das, was schon immer da war. Dieser Garten ist wie ein Langzeitgedächtnis – ich sehe mich meine eigenen Beete pflegen, sehe, wie meine Oma am Fenster nach mir Ausschau hält, höre, wie mein Opa von seiner „Elster“ auf der Jagd nach frischem Grünzeug spricht, sehe, wie meine Mama und ich Kirschen und Äpfel pflücken, wie die Nachbarin die schönsten Himbeeren für mich beiseitestellt, wie der Collie nebenan es kaum erwarten kann, dass ich mit ihm spazieren gehe; ja, das ist Heimat. Heimat ist für mich das, was mich geprägt hat, womit unglaublich viele schöne und manchmal auch traurige Geschichten verbunden sind. Zu Hause bin ich allerdings längst im Rheinland. Ich weiß noch, wie erschrocken ich reagiert habe, als mich in Duisburg in der U-Bahn eine Frau wegen meiner Haarfarbe angesprochen hat, die sie unbedingt genauso haben wollte. An diese Offenheit musste ich mich erst gewöhnen. Aber genau die ist es, die ich liebe, schätze und mittlerweile auch lebe – ich war quasi eine Sachsen-Anhaltinerin im Exil. Aber: Ohne Kemberg, ohne meine Heimat, gibt es mich nicht. Und ich mag nicht daran denken, wenn es ohne meine Mutter diese Verbindung nicht mehr gibt.
Stell dir vor, du musst wegziehen in eine weit entfernte Stadt oder sogar in ein anderes Land. Welche drei Dinge brauchst du unbedingt, damit du am neuen Ort ankommen kannst?
Ich brauche ein Telefon, Facebook und Skype oder WhatsApp. Städte- oder Ländergrenzen verschwimmen damit und sind nur Linien auf einer Landkarte. Mit meiner Mama und meinen besten Freunden telefoniere ich, schreibe Nachrichten über Facebook oder WhatsApp – ganz egal, ob sie in Düsseldorf, Kemberg, Glauchau oder sonstwo auf der Welt leben; meine ältesten und besten Freunde leben nun mal leider nicht um die Ecke. Deshalb: Mit echten Freunden im mentalen Gepäck kann ich jeden Ort in mein Zuhause verwandeln, das habe ich in den vergangenen Jahren gelernt.
Die Frage „Woher kommst du eigentlich?“ ist in Deutschland alltäglicher Gegenstand von Smalltalk. Jeder vorhandene oder fehlende Dialekt oder Akzent, das Aussehen und andere Merkmale werden zum Anlass von Fragen, manchmal aus Neugierde, manchmal um über etwas anderes als das Wetter zu reden und manchmal belastet von Vorurteilen und Erwartungen. Was denkst du über die Frage und wie gehst du damit um, wenn du auf deine Herkunft angesprochen wirst?
Zum gefühlt x-tausendsten Mal gehört: „Ach, dass du aus Sachsen-Anhalt kommst, hört man gar nicht.“ Oder: „Ich dachte, du bist aus Berlin.“ Als ich nach NRW kam, hat mich dieses „Kompliment“ noch stolz gemacht – einfach, weil man meine Herkunft nicht eindeutig zuordnen konnte und ich damit irgendwie neutral, also ohne Vorurteile behaftet, war. Heute denke ich: „Und? Was wäre wenn? Würdest du mich weniger schätzen/mögen/lieben?“ Wenn man wie ich 45 ist, landet man nach der Frage „Woher kommst du eigentlich?“ zwangsläufig bei der (Vor-)Wendezeit – und da kommt es ganz darauf an, mit wem man sich unterhält. Viele sind neugierig. Wenn man dann in einer gemischten Runde zusammensitzt, in der jeder „Ossi“ seine Geschichten erzählt, wird es schnell lustig, gespickt mit so einigen „Stimmt ja“-Momenten, denn viele Erinnerungen verblassen mit der Zeit nun mal. Für andere war der Osten scheinbar nur die Vorhölle, stinkend und grau. Da sind wir dann wieder bei den Vorurteilen. Gefühlt ist das ein ewiger Kreislauf. Immer wieder denke ich: „Leute, die Wende ist nun 28 Jahre her – das Thema sollte doch längst gegessen sein.“ Ist es aber nicht.
Gibt es andere Fragen als die nach der Herkunft, die du gefühlt jedes Mal gestellt bekommst, wenn du auf neue Menschen triffst? Welche und was machst du, wenn du davon genervt bist?
Wie heißt du? Was machst du? Und gern mal beim Grillen in neuer Runde gefragt: Du ernährst dich vegan – was kann man denn da noch essen? Neue Leute lernt man nun mal auch dadurch kennen, dass man die wichtigsten Dinge abklopft. Namen, Beruf und Hobbys bieten einfach gute Anknüpfungspunkte für ein Gespräch, wenn man Interesse an seinem Gegenüber hat. Die ersten beiden Fragen sind schnell und gern auch ausführlich beantwortet. Beim Veganen wird’s dann schon mal komplizierter und ich wäge ab, ob mein Gegenüber wirklich interessiert ist oder nur sein Klischeedenken bei mir abladen will. Bei Letzterem: Leeve un leeve losse – ich mach mein Ding, du deins und wir können gut miteinander auskommen.
Gibt es einen Glaubenssatz, der dich leitet und begleitet?
Rheinisches Grundgesetz: Et hätt noch emmer joot jegange. Da spielt irgendwie alles rein: Lerne aus der Vergangenheit und vertraue auf das Gute – wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende. Und: Manchmal muss man was riskieren, sonst weiß man nicht, ob die Götter einen lieben. Der Satz hat mich immer wieder bei wichtigen Entscheidungen ermutigt – beruflich und privat.
Was ist für dich die größte Herausforderung unserer derzeitigen Gesellschaft?
Es gibt so viele Krisenherde auf der Welt, dass ich gar nicht mehr weiß, wo ich hingucken, wovor ich mich am meisten fürchten und wofür ich mich am stärksten einsetzen soll. Angst machen mir auf jeden Fall die Populisten wie Trump, Erdogan, Le Pen, Petry und Co., die den komplexen Fragen unserer Zeit mit einfachen Antworten begegnen – und viele nur die hören und ihnen glauben, ohne mal zu hinterfragen und einen Blick über den Tellerrand zu wagen. Auch die Diskussions- oder eher Streitkultur, die damit einhergeht, finde ich beängstigend. Deshalb wünsche ich mir: mehr Zuhören, mehr sachliches Argumentieren, mehr Miteinander statt Gegeneinander, mehr Offenheit, Verständnis und Respekt füreinander – quer durch Nationalitäten und Religionen. Und da schließt sich für mich der Kreis: So wie ich möchte, dass akzeptiert wird, wer und wie ich bin, möchte ich das gegenüber anderen auch leben. Einfach Vorbild sein, dass es auch anders geht. Wenn das ganz viele machen, ist viel gewonnen.
Wenn du die freie Wahl hättest, wo möchtest du gerne leben?
In Düsseldorf fühle ich mich angekommen, erst mal jedenfalls. Ich kann mir aber auch gut vorstellen, in Berlin zu wohnen, weil ich die Berliner Schnauze und das noch ausgeprägtere Multikulti mag. Wenn ich alt bin, ziehe ich nach Jamaika und genieße das Leben auf meiner Trauminsel.
Vielen Dank für das Gespräch!
* Die Fotos wurden von Doreen Köstler zur Verfügung gestellt. Das Portraitbild ganz am Anfang ist vom Fotostudio Zur alten Metzgerei in Düsseldorf.
Doreen findet ihr übrigens auch im Netz, unter http://www.federworx.de/.
1 Gedanke zu „Identität – Akzeptiert werden, wer und wie man ist – Folge 17“