Ein Kölner im Berliner Exil, könnte man meinen. Ist aber nicht so. Michael Nell ist in der Eifel aufgewachsen, hat außerdem in Bonn und Heidelberg gelebt. Der letzte Umzug von Köln nach Berlin war nicht ganz freiwillig und die Umstellung fällt dem 50-jährigen schwerer. Auch ein Aspekt, der das Gefühl zu Heimat, Zuhause und Wohnort bestimmt. Und das können drei verschiedene Orte sein, wie Michael erzählt:
Interview:
Wie würdest du deine Einstellung zum Thema Identität oder Identitäten beschreiben? Hat sie sich im Laufe deines Lebens verändert?
Der Begriff „Identität“ erscheint mir schwierig, ja zu schwierig, setzt er doch voraus, dass man sich als derselbe/dieselbe begreift und auch von seiner Umwelt so wahrgenommen wird. Der Begriff hat u.a. philosophische, theologische und psychologische Dimensionen, wozu ich nichts sagen kann, da mir die Kompetenz dazu fehlt. Letztlich wird, so glaube ich, die Frage gestellt: „Wer bin ich?“ Das herauszufinden, kann eine Lebensaufgabe sein.
Identität als Frage nach der Staatsbürgerschaft gehört auch dazu. Diese hat sich in meinem Leben bislang nicht geändert. Ich empfinde mich als Deutscher und als Europäer.
Identität als Frage des Bekenntnisses: Ich bin, wie die meisten aus meiner Heimatregion, katholisch sozialisiert worden und gehöre der Kirche auch weiterhin an, was mir nicht immer leicht gefallen ist, aber es ist immer Teil meiner Identität geblieben. Interessant finde ich, dass ich diese Sozialisation wieder etwas stärker empfinde, seit ich in Berlin lebe. Dazu kommt auch, dass ich mich im vergangenen Jahr in der Flüchtlingsarbeit der nahegelegenen Pfarrgemeinde eingebracht habe.
Ich investiere viel Arbeitszeit in meine Blogbeiträge, beachte journalistische Kriterien und stelle viel weiterführende Information zur Verfügung. Das alles stelle ich kostenlos für alle zur Verfügung – ohne bezahlte Werbung auf meiner Seite. Aber natürlich muss auch ich im Supermarkt mit Euros bezahlen. Daher freue ich mich, wenn du meine ehrenamtliche redaktionelle Arbeit unterstützt.
Meine Identität hat sich entwickelt, durchlebt Phasen und entwickelt sich hoffentlich noch weiter, sodass ich lieber von Identitäten sprechen würde.
Bist du oft umgezogen? In welchen Ländern und an welchen Orten hast du gelebt?
Oft bin ich nicht umgezogen: aus meinem Heimatdorf Welling in der Vulkaneifel ging es über Bonn und Heidelberg nach Köln, wo ich recht lange lebte und schließlich nach Berlin, wo ich aktuell wohne.
Das Gymnasium besuchte ich in Mayen. Während meine Schulzeit nahm ich an einem fünfwöchigen Schüleraustausch nach Rochester, NY teil. Für heutige Verhältnisse klingt das wenig spektakulär, aber damals war es schon außergewöhnlich und für mich, für den Urlaubsreisen in Ausland eher die Ausnahme waren, ein wichtiges Ereignis. Neben dem Leben in einer US-amerikanischen Familie, dem dortigen Schulalltag, standen auch Fahrten nach Toronto, Washington, zu den Niagarafällen und nach New York City auf dem Programm. In meiner Schulzeit habe ich Freundschaften geknüpft, die heute noch Bestand haben und sehr wertvoll sind.
Zwar war das Angebot an Clubs, damals sagte man noch Disco, in der Region überschaubar, aber ich erinnere mich noch gerne an die Musicalbox in Kaisersesch, dort lief genau die Musik, die eben damals nicht unbedingt die Hitlisten dominierten, und die wir eben hören wollten. Ja, der Laden hat meinen Musikgeschmack schon entscheidend mitgeprägt. Leider musste der Laden 2015 schließen, was ich gerade im Internet lesen musste.
Nach dem Abitur ging es dann zum Studium in das nicht allzu weit entfernte Bonn. Zunächst hatte ich ein Semester Geschichte und klassische Philologie belegt, danach dann Pharmazie studiert, worin ich dann auch meinen Abschluss mit Approbation zum Apotheker ablegte. Doch die Geisteswissenschaften haben mich nicht ganz losgelassen, sodass ich in der Folge in Heidelberg den Aufbaustudiengang Geschichte der Pharmazie und der Naturwissenschaften studierte und im Anschluss daran eine Promotion anfertigte, die sich mit der Heilkunst der frühen Neuzeit, also im weiteren Sinne mit Alchemiegeschichte beschäftigte. Heidelberg, eine wundervolle Stadt – fast zu schön!
Nach mehr als drei Jahren wollte ich Heidelberg verlassen, eine neue berufliche Herausforderung annehmen und auch in eine größere Stadt umziehen. Beruflich ging es dann nach Düren. Da ich noch an meiner Dissertation schrieb und die Nutzung der Bibliotheken in Köln und Düsseldorf dazu erforderlich war, zog ich nach Köln. Nein, um es klar zu sagen: ich wollte nach Köln ziehen.
Den Umzug nach Köln habe ich zu keiner Zeit bereut, auch nicht dann, wenn ich „et ärme Dier“ (Kölner Dialekt für Traurigkeit und schlechte Laune ohne besonderen Grund) hatte, was nicht so oft der Fall war. Und Köln wurde für mich ziemlich schnell Zuhause und eigentlich die zweite Heimat. Bedingt durch meinen Berufswechsel 2005 wurde mir aber klar, dass, vorausgesetzt ich bleibe in diesem Job, in den nächsten Jahren ein Umzug nach Berlin anstehen würde. So ganz sicher war ich mir aber dabei nicht und ich habe das ganze noch mal um zwei Jahre aufschieben können. Danach bin ich dann noch mehr als ein Jahr lang an den Wochenenden zwischen Berlin und Köln gependelt, bevor ich im Sommer 2013 schließlich umzog, nachdem neben dem beruflichen noch ein privater Grund hinzugekommen war.
Deutschland habe ich von mehr oder weniger langen Urlaubsreisen abgesehen, nie verlassen. Bedingt durch einen Schulfreund, der bereits in den neunziger Jahren nach Spanien zog sowie durch einen brasilianischen Freund aus Studientagen hat sich bei mir seither ein Interesse für Spanien und Lateinamerika entwickelt. Folglich stammen einige meiner Freunde und Bekannten aus diesem Kulturkreis. In Berlin bin ich dem Lateinamerika-Forum beigetreten, dessen Aufgabe es ist bildungspolitische Veranstaltungen mit Lateinamerika-Bezug durchzuführen.
Gibt es eine Phase in deinem Leben, in der du dich stark umstellen musstest, weil plötzlich alles anders war? Was war das Schwierige?
Da ich nie außerhalb Deutschlands lebte, waren die Umstellungen nicht allzu groß. Sie waren primär bestimmt durch den Wechsel der Arbeit. Vielleicht nur so viel: Die mitunter ruppige Berliner Art ist für mich nach wie vor gewöhnungsbedürftig. Da ging es im Rheinland etwas herzlicher und humorvoller zu. Aber es gibt natürlich auch nette Berliner und bei einer Taxifahrt in der Hauptstadt kann man mintunter viel über die „Berliner Seele“ erfahren“.
Jetzt lebe ich schon seit ein paar Jahren in Berlin. Natürlich bietet Berlin unheimlich viel und es gibt auch keine mit Berlin vergleichbare Stadt in Deutschland. Berlin spielt schon in derselben Liga wie andere europäische Metropolen. Durch die jüngere deutsche Geschichte ist die Stadt einzigartig. Allerdings ist es mir schwerer gefallen, mich hier einzuleben als zuvor in Heidelberg oder in Köln, was gewiss mit der Größe der Stadt aber auch mit dem Alter bzw. der Lebensphase zusammenhängen mag. Hinzu kommt auch, dass ich aufgrund von familiären Erfordernissen häufiger an Wochenenden in die Eifel musste; dem komme ich natürlich gerne nach, aber es verlangsamt doch den Prozess der Eingewöhnung.
Denk bitte an deine Grundschulzeit. Welche Bilder, Gefühle und Erlebnisse aus dieser Zeit sind dir präsent? Was ist dir aus deiner Jugend als besonders wichtig in Erinnerung?
Aufgewachsen bin ich auf einen Bauernhof in der Eifel, genauer gesagt in der Osteifel, dort wo die Landschaft infolge des Lavaabbaus schon etwas ausgeräumt aussieht. Rhein, Mosel und Ahr sind nicht allzu weit entfernt und das Flüsschen Nette, das am Dorf vorbeifließt, hat ein malerisches Tal geformt, sodass es landschaftlich sehr schön dort ist. Die herbe Schönheit der Eifellandschaft habe ich allerdings erst in den letzten Jahren richtig wahrgenommen und lieben gelernt. Die Kindheit auf dem Land war toll, so spielten wir meistens auf der Straße, draußen in der Natur oder auf dem Bolzplatz .
Zu Köln hatte ich schon seit Kindheitstagen eine emotionale Bindung: Zum einen bin ich seit meiner Kindheit Anhänger des 1. FC Köln. Die Fahrten ins Stadion, die in meiner Kindheit und Jugendzeit nicht häufig, aber doch ab und zu vorkamen und bei denen man oft mit Gladbach- oder Bayern Fans im Bus fahren musste, was stets eine Tortur war, waren für mich quasi Wallfahrten. Immerhin habe ich noch Spiele des FC im Europapokal live gesehen, was ja schon etwas her ist, aber hoffentlich bald wieder der Fall sein wird.
In meinem Kinderzimmer hing der Kicker-Starschnitt von Heinz Flohe und ein Poster von Yasuhiko Okudera. Das Poster der Double-Gewinner fehlte natürlich auch nicht. Meine Mutter musste mir FC-Aufnäher auf T-Shirts nähen. Zum anderen hatte eine Tante meiner Mutter, die in Köln „in Stellung war“, wie es damals hieß, mir als Kinder immer Geschichten aus Köln erzählt und meine Neugier schon früh geweckt. Hinzu kamen gelegentliche Fahrten mit der Familie und später mit Freunden bzw. mit deren älteren Geschwistern. Dabei galt es in erster Linie, das Taschengeld oder das erste verdiente Geld bei Saturn in Platten und CDs umzusetzen. Viele davon habe ich heute noch. Es war also vollkommen klar, dass ich irgendwann einmal in diesem Biotop leben wollte. Also Köln!
Was bedeutet für dich Heimat und wo fühlst du dich heute zuhause? Welche Bilder, Gerüche oder Gefühle verbindest du mit dem Begriff Heimat?
Heimat ist für mich in erster Linie dort, wo ich aufgewachsen bin, da wo mir die Landschaft, ihre Gerüche, die Geräusche, der Dialekt der Leute vertraut sind. Ob ich dort heute noch mal dauerhaft leben will, ist eine andere Frage. In Abgrenzung zum Begriff Heimat bedeutet Zuhause etwas anderes: Zuhause ist für mich der Ankerplatz, „the place to be“. Das ist für mich weiterhin Köln, was ich daran merke, dass mich fast jedes mal ein Gefühl von „nach Hause kommen“ erfüllt, wenn der Zug über die Hohenzollernbrücke fährt, selbst dann, wenn ich dort gar nicht aussteige. Mein Wohnort ist Berlin. Zuhause und Wohnort können sich ändern, die eigentliche Heimat aber nicht.
Stell dir vor, du musst wegziehen in eine weit entfernte Stadt oder sogar in ein anderes Land. Welche drei Dinge brauchst du unbedingt, damit du am neuen Ort ankommen kannst?
Am besten ist es nichts mitzunehmen, um sich auf die weit entfernte Stadt einzulassen und neugierig zu bleiben. Das Wichtigste hat man in seinem Herzen, klingt sentimental, ist aber so, oder auf dem iPad. Aber hier werden drei Dinge abgefragt, also: ein Foto der Familie, ein Bild vom Dom und meinen FC-Schal.
Die Frage „Woher kommst du eigentlich?“ ist in Deutschland alltäglicher Gegenstand von Smalltalk. Jeder vorhandene oder fehlende Dialekt oder Akzent, das Aussehen und andere Merkmale werden zum Anlass von Fragen, manchmal aus Neugierde, manchmal um über etwas anderes als das Wetter zu reden und manchmal belastet von Vorurteilen und Erwartungen. Was denkst du über die Frage und wie gehst du damit um, wenn du auf deine Herkunft angesprochen wirst?
Es kommt darauf an, in welchem Kontext die Frage gestellt wird. Ist es Neugier beim Fragenden oder besteht die Absicht sich abzugrenzen. Werde ich im Ausland auf meine Herkunft angesprochen, so sage ich natürlich Deutschland. Weiteres ergibt sich dann im Gespräch. Werde ich beispielsweise in Berlin angesprochen, so erkläre ich, dass ich aus der Eifel stamme, aber vor meinem Umzug nach Berlin längere Zeit in Köln gelebt habe, was oft dazu führt, dass ich für einen Kölner gehalten werde. Nie würde ich sagen, dass ich „’ne kölsche Jung“ bin, das wäre schlicht weg falsch. Und bei aller Liebe zur Domstadt will ich nicht in Kölschtümelei verfallen oder mach ich das gerade schon…
Gibt es andere Fragen als die nach der Herkunft, die du gefühlt jedes Mal gestellt bekommst, wenn du auf neue Menschen triffst? Welche und was machst du, wenn du davon genervt bist?
Manche Leute fragen gleich nach dem Beruf und ordnen einen dann irgendwie ein. Wie gesagt, es kommt immer auf die Intention der Frage an. Wenn jemand ernsthaft an der Person interessiert ist, ist jede Frage okay.
Gibt es einen Glaubenssatz, der dich leitet und begleitet?
Den sollte es geben, fällt mir aber im Moment nicht ein. Natürlich gehört „Levve un levve losse“ (leben und leben lassen) dazu; aber auch der kategorische Imperativ Kants genauso wie die Bergpredigt.
Was ist für dich die größte Herausforderung unserer derzeitigen Gesellschaft?
Den Erhalt und die Weiterentwicklung einer gerechten, offenen, pluralistischen und solidarischen Gesellschaft.
Wenn du die freie Wahl hättest, wo möchtest du gerne leben?
Das hängt in erster Linie von den Menschen ab.- Allerdings hängt der Wohnort oft von der Arbeit ab. Ich bin selber auch gespannt: wird Berlin zu meinem Zuhause oder sogar zu meiner „dritten Heimat“, oder geht’s zurück an den Rhein oder nach Argentinien oder irgendwo ganz anders hin……
Vielen Dank für das Gespräch.
* Die meisten Fotos hat Michael Nell zur Verfügung gestellt. Drei habe ich (Sigi Lieb) fotografiert. Das Landschaftsbild von der Vulkaneifel, das Portraitbild im Titel und „Blick-nach-oben“.