Inklusive Sprache ist mehr als Gender. Inklusive Sprache muss viele unterschiedliche, teils widersprüchliche Anforderungen erfüllen. Sie soll Frauen und Männer gleichberechtigt repräsentieren, Trans-, Inter- und nicht-binären Personen Sichtbarkeit verleihen, wertschätzend über PoC (BIPoC), Alter, Klasse, Behinderung sprechen, technisch für alle zugänglich und verständlich sein. Wie ist das zu schaffen? (mit Update vom 30. November 2023)
Inklusive Sprache: Was sind überhaupt Sprachbarrieren?
Wenn du keinerlei Behinderung hast, Muttersprachler*in bist und über einen akademischen Abschluss verfügst, ist es für dich vielleicht manchmal schwer, Barrieren in der Sprache und Kommunikation überhaupt zu bemerken. Denn für dich sind es keine, jedenfalls keine, die du nicht bewältigen kannst.
Im Grunde gibt es zwei Sorten von Barrieren, technische und sprachliche.
Technische Barrieren be- oder verhindern den Zugang zu einer Information für bestimmte Gruppen. Wer blind ist, kann nicht sehen, was eine Grafik oder ein Foto zeigt und ist auf eine vernünftige Beschreibung im ALT-Text angewiesen. Wer gehörlos ist, benötigt Untertitel oder Audio-Manuskripte, um teilhaben zu können. Dazu kommen Schriftgrößen, Kontraste und andere Aspekte. Auf der technischen Seite im Backend gehört ein achtsamer Umgang mit Tabellen dazu. Screenreader sind bei Tabellen oft schlecht. Was alles zu erfüllen ist, ist in der Barrienfreien-Informationstechnik-Verordnung (BITV) geregelt. Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit bietet hierzu weiterführende Informationen.
Sprachliche Barrieren befinden sich im Text selbst. Auf diese sprachlichen Barrieren und wie du sie vermeiden kannst, gehe ich im Folgenden ein. Und ich räume mit einigen Mythen auf, die im Kontext von Barrierefreiheit und Gendern immer wieder zu lesen und zu hören sind
Ich investiere viel Arbeitszeit in meine Blogbeiträge, beachte journalistische Kriterien und stelle viel weiterführende Information zur Verfügung. Das alles stelle ich kostenlos für alle zur Verfügung – ohne bezahlte Werbung auf meiner Seite. Aber natürlich muss auch ich im Supermarkt mit Euros bezahlen. Daher freue ich mich, wenn du meine ehrenamtliche redaktionelle Arbeit unterstützt.
Zwischen Desinformation, Glaubenssätzen und Wunschdenken
Wenn es um das Gendern geht, heißt es oft, das sei nicht barrierefrei. In Bezug auf Doppelpunkt und Sternchen werden Behauptungen aufgestellt, ohne diese zu überprüfen. Betroffene werden selten gefragt. Sie werden benutzt, um die eigene Sichtweise zu begründen.
Manchmal werden Narrative im guten Glauben übernommen und weitergetragen, wie dieses unsägliche Doppelpunkt-Narrativ, das ich auch 2023 immer noch höre. Obwohl ein kurzer Blick auf die Website des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V. (DBSV) schnell Klarheit bringen würde: Der DBSV gibt seit März 2021 dem Stern den Vorzug vor dem Doppelpunkt.
Manchmal werden vorgelegte Belege herabgewürdigt oder Behauptungen wider besseres Wissen aufgestellt, um das eigene Narrativ zu stärken. Das ist dann bewusste Desinformation. Das nutzen oft diejenigen, die heftig gegen gendergerechte Sprache wettern, oder zumindest Sonderzeichen radikal ablehnen.
Was sagt der Rechtschreibrat zu geschlechtergerechter Sprache?
Der Rat für deutsche Rechtschreibung, kurz Rechtschreibrat, ist ein Gremium von Fachleuten, das im Zuge der Rechtschreibreform 2004 eingerichtet wurde. Seine Aufgabe ist es, den schriftlichen Sprachgebrauch in Deutschland, Österreich, Schweiz, Südtirol und anderen deutschsprachigen Regionen zu beobachten und die Schreibregeln gemäß des Gebrauchs achtsam weiterzuentwicklen.
Im März 2021 äußerte er sich zum Thema geschlechtergerechte Sprache und bekräftigt seine
„Auffassung, dass allen Menschen mit geschlechtergerechter Sprache begegnet werden soll“.
Website Rechtrschreibrat
Dafür empfiehlt er folgende Kriterien für eine geschlechtergerechte Schreibung:
- sachlich korrekt
- verständlich und lesbar
- vorlesbar
- rechtssicher und eindeutig
- übertragbar (Länder mit mehreren Sprachen)
- Konzentration auf den wesentlichen Inhalt sicherstellen
Und der Rechtschreibrat stellt noch etwas fest: Er anerkennt das Problem, dass wir eine Benennungslücke haben. Was bedeutet das?
In der deutschen Sprache sind Berufe, Funktionen, Titel in der Regel nach weiblichen und männlichen Bezeichnungen getrennt. Gattungsbegriffe oder Bezeichnungen für Menschen mit dem Geschlechtseintrag „divers“ (seit 2019) oder ohne Geschlechtseintrag (seit 2013) fehlen.
Hier am Beispiel: Das Rind ist der Gattungsbegriff. Zusätzlich gibt es die Kuh, den Bullen, den Ochsen und das Kalb als spezifische Begriffe. Für Elektrikerinnen und Elektriker fehlt ein solcher Oberbegriff.
Die Nutzung von Wortbinnenzeichen, so nennt der Rechtschreibrat die Genderzeichen, wird unter den Fachleuten im Rechtschreibrat kontrovers diskutiert. Im Juli 2023 beschloss der Rechtschreibrat einen Ergänzungspassus zu den Genderzeichen und wies sie den Sonderzeichen wie %, & oder § zu. Diese Zeichen finden in der Sprache zwar Verwendung, werden aber nicht im Amtlichen Regelwerk geregelt.
Der Rat begründet seine Entscheidung unter anderem damit, dass sie eine metasprachliche Bedeutung transportieren und dass noch nicht geklärt ist, wie sie so gesetzt werden können, dass sie keine grammatikalischen Folgeprobleme produzieren.
Die Aufgabe des Rechtschreibartes ist nicht, den Menschen vorzuschreiben, wie sie schreiben sollen (normativ). Er hat vielmehr die Aufgabe, den Sprachgebrauch zu beobachten und die Regeln der Benutzung entsprechend achtsam weiterzuentwickeln (deskriptiv).
Insofern untersucht der Rechtschreibrat weiter den Genderstern (und andere Sonderzeichen) im Hinblick darauf, wie sie im Sprachsystem wirken. Und er beobachtet, wie er im Sprachgebrauch benutzt wird.
Die meisten Techniken für geschlechtergerechte Sprache sind aber völlig unstrittig in Bezug auf die Rechtschreibung. Viele werden von Gender-Gegner*innen nicht einmal bemerkt.
Welche Genderformen sind barrierefrei?
Welche Genderformen barrierefrei sind, lässt sich nicht pauschal beantworten. Barrieren sind nicht für alle gleich. Was des einen Hilfe kann des anderen Hürde sein. Du musst also oft abwägen, Kompromisse finden.
Am besten ist es, wenn du neutrale Formen aus gewöhnlichen bekannten Wörtern benutzt.
Statt
Ahmet und Lisa sind leidenschaftliche
Gärtner
Gärtnerinnen und Gärtner
Gärtner*innen,
kannst du schreiben:
Ahmet und Lisa gärtnern leidenschaftlich gerne.
Eine Studie in Graz hat die Frage, wie gendergerechte und leichte Sprache zusammenpassen, genauer untersucht. Durchgeführt wurde sie von Dr. Christopher Ebner vom Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaften der Universität Graz in Kooperation mit Capito, einer Agentur, die seit mehr als 20 Jahren Texte in Leichte Sprache übersetzt. Dafür arbeitet sie mit zertifzierten Methoden und bezieht Betroffene ein. 54 Menschen, die auf Leichte Sprache angewiesen sind, beurteilten die Verständlichkeit unterschiedlicher Texte in drei Schwierigkeitsstuften (A1, A2 und B1).
Dass neutrale bekannte Wörter am besten verstanden werden, ist wenig überraschend. Auch die Beidnennung wird gut verstanden und auch das verwundert nicht.
Für manche aber überraschend: Der Genderstern schnitt besser ab als so manche Partizipkonstruktion. Das müssen wir uns genauer ansehen.
Inklusive Sprache: Ist der Genderstern exkludierend?
Über den Genderstern wird behauptet, er würde blinde, sehbehinderte, autistische Menschen, Menschen mit LRS oder Menschen, die Deutsch als Zielsprache lernen, ausschließen.
2021 brach auf Twitter ein Shitstorm über mich herein und warf mir Ableismus (Behindertenfeindlichkeit) vor, weil ich den Genderstern verwendete. Angeblich sei er für autistische Menschen exkludierend. Sachliche Quellen und Erläuterungen bekam ich auf Twitter nicht. Einzig eine Person ließ sich auf eine E-Mail-Kommunikation ein. Der Mann kündigte mir eine Erklärung und einen Nachweis an. Bekommen habe ich nie etwas. Aber ich war neugierig geworden und ging der Frage eigenständig nach.
Auf Linkedin hatte ich bereits Kontakt mit Personen aus dem Autismusspektrum. Die kontaktierte ich und suchte gezielt nach weiteren. Ergebnis meiner Recherche:
Es gibt im Autismusspektrum Personen,
- die den Genderstern gut finden und ihn selbst benutzen,
- denen der Genderstern egal ist und
- solche, die ihn vehement ablehnen.
Warum sollte das unter blinden oder autistischen Menschen anders sein als unter anderen Leuten? Nur weil Menschen eine gemeinsame Eigenschaft haben, bleiben sie doch Individuen mit individuellen Einstellungen. Deshalb ist es auch immer schwierig, von einer einzelnen betroffenen Person auf eine ganze betroffene Gruppe zu schließen.
Was ich aus Gesprächen mit autistischen Menschen sowie aus Gesprächen mit Personen mit LRS verstanden und gelernt habe:
- Es gibt Personengruppen, die den Stern als störenden Reiz empfinden. Wobei es auf die Häufigkeit angkommt, mit der er auftaucht. Mir haben als Reaktionen auf diesen Text Betroffene geschrieben. Und auch wenn sie Probleme mit Gendersternen haben, haben sie diesen Blogartikel als gut verständlich empfunden.
- Es gibt verschiedene Personengruppen, für die die Zeichenvielfalt verwirrend ist: Warum gibt es für die gleiche Bedeutung mehrere Zeichen? Wann nehme ich welches?
Das mag ein wesentlicher Grund sein, warum der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband auf seiner Website im März 2021 schreibt:
„Falls jedoch mit Kurzformen gegendert werden soll, empfiehlt der DBSV, das Sternchen zu verwenden, weil es laut Veröffentlichungen des Deutschen Rechtschreibrates die am häufigsten verwendete Kurzform ist und so dem Wunsch nach einem Konsenszeichen am nächsten kommt. Zudem ist davon auszugehen, dass Doppelpunkt und Unterstrich für sehbehinderte Menschen schlechter erkennbar sind als das Sternchen.“
Website DBSV
Es wäre also eine Hilfe in Sachen Barrierefreiheit, wenn wir uns mittelfristig auf ein Sonderzeichen einigen könnten. 100 Prozent barrierefrei ist keines der Sonderzeichen, aber auch das Maskulinum ist nicht barrierefrei. Wegen seiner Doppeldeutigkeit (generisch oder spezifisch) führt es zu Missverstehen.
Wie unterscheiden sich die verschiedenen Sonderzeichen also im Hinblick auf Barrierefreiheit?
Barrierefreiheit: Genderstern, Genderdoppelpunkt, Genderunterstrich oder Binnen-I?
Wie oben erwähnt: Der Genderstern ist das bekannteste und am häufigsten verwendete Genderzeichen, das alle Geschlechter einschließt. Im Vergleich zum Doppelpunkt ist der Stern für sehbehinderte Menschen besser lesbar. Der Unterstrich ist vergleichsweise selten zu finden.
Die Studie von einem Team um Stefanie Koehler und Michael Wahl von der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT) vom August 2021 zeigt, dass Stern und Doppelunkt technisch in Sachen Barrierefreiheit abschneiden. Bei Bekanntheit und Akzeptanz landet der Stern aber vor dem Doppelpunkt. Im November 2023 präzisiert die BFIT, dass alle Sonderzeichen barrierefrei wahrgenommen werden können. Ob sie auch verständlich sind, hängt von mehreren Faktoren ab. Dazu später. Zurück zur Wahrnehmbarkeit:
Was Screenreader angeht, ist jede Sprachausgabe-Software ein bisschen anders und Software entwickelt sich technisch natürlich weiter.
- Der Stern wird von manchen Sprachausgaben als Stern, von anderen richtig mit Leerzeichenpause vorgelesen.
- Der Unterstrich wird teilweise als Unterstrich, teilweise richtig mit Leerzeichenpause vorgelesen. Der Unterstrich ist allerdings weit weniger bekannt und hat andere Nachteile, zum Beispiel ist er unsichtbar, sobald das Wort unterstrichen wird.
- Der Doppelpunkt wird entweder als Doppelpunkt oder FALSCH als Satzzeichenpause vorgelesen. Zudem ist der Doppelpunkt eine Stolperfalle im Satz, weil das Gehirn sich entscheiden muss: Satzzeichen oder Genderzeichen. Für sehbehinderte Menschen ist er schwer lesbar, wird leicht übersehen.
- Das Binnen-I ist deutlich älter als die anderen Zeichen und wird von den meisten Sprachausgaben richtig als Leerzeichenpause gelesen. Das Binnen-I ist allerdings kein inklusives Genderzeichen, sondern benennt nur Männer und Frauen.
Bereits 2021 habe ich mit Hilfe einer blinden Kollegin einen Blogbeitrag geschrieben, in dem sie erklärt, wie sich der Screenreader einstellen lässt, dass er den Stern als Leerzeichenpause vorliest, zumindest bei den Wörtern auf *in.
Was bedeutet der Genderstern?
Die größte Hürde oder Barriere, die der Genderstern erzeugt, ist eigentlich banal: Zu verstehen, was er bedeutet. Zurück zur Studie aus Graz: Manche kannten den Genderstern schon, anderen war das Zeichen oder zumindest seine Bedeutung unbekannt. Wurde es erklärt, wurde der Stern verstanden. Manche fanden ihn gut. Andere lehnten ihn ab. Die ihn ablehnten, empfanden ihn tendenziell als störender.
Das passt exakt zu dem, was eine andere Studie gezeigt hat, die 14- bis 35-jährige zum Gendern befragte. Das Kölner Marktforschungsinstituts Rheingold stellte 2021 fest, dass viele nicht genau wissen, was Gendern bewirken soll und was der Stern bedeutet:
„Der eigentliche Hintergrund einer besseren sprachlichen Sichtbarmachung der Frauen wird daher oft nicht erkannt. Nur 36 % aller Befragten glauben, dass das Gendern Frauen in der Sprache stärker berücksichtigt und für mehr Gleichstellung sorgen soll. Mehr als 50 % denken, dass damit Neutralität zwischen allen Geschlechtern geschaffen werden soll, 33 % sehen darin eine Inklusion von Menschen jenseits von Mann und Frau und 20 % sehen das Gendern als einen Ausdruck von Feminismus.“
Website Rheingold Marktforschung
Und
„Durch diese Unklarheit wird das Gendern oft zur Chiffre für allgemeine gesellschaftliche Missstände. Dadurch entspinnt sich über das Gendern ein Stellvertreterkrieg gegen verschiedenste Gaps und Versäumnisse unserer Gesellschaft: von fehlender Integration des Weiblichen, mangelnder Diversität, dem Gender Pay Gap, bis hin zur mangelhaften Integration von Flüchtlingen und dem Problem des Rassismus. Alle diese Themen führen oft zu verbitterten Grabenkämpfen im Alltag.“
Website Rheingold marktforschung
Wenn sämtliches Unwohlsein mit der Gesellschaft in ein einziges Wort oder ein Zeichen gesteckt werden, ist das natürlich weder hilfreich noch nützlich.
Ich beschäftige mich nun schon seit mehreren Jahren intensiv mit dem Thema Gendern. Für mich ist der Stern schlicht der Versuch, den oben erwähnten, fehlenden Gattungsbegriff zu erzeugen.
Die Berufsbezeichnung mit Stern ist also das Pferd zum Hengst und zur Stute. Elektriker*in bedeutet, dass ich über den Beruf spreche, ohne ein Geschlecht zu benennen. Daher verwende ich auch nur einen Artikel, und zwar „die“. Denn „die“ passt phonetisch und ist sprachlich einfacher zu deklinieren als „der“ oder „das“.
Und so lassen sich Sinn und Bedeutung des Gendersterns einfach erklären. Und auch seine richtige Anwendung wird denkbar einfach. Und es gibt weder Sternenhäufungen noch Probleme mit Vokalwechseln, Endungen oder dem Genitiv.
Ein Beispiel:
Nicht so:
Ein*e verantwortungsbewusste*r Chef*in achtet auf sein*ihr Team.
Das ist wirklich lästig zu lesen. Besser so:
Eine verantwortungsbewusste Chef*in achtet auf ihr Team.
Wenn wir also sowohl ein vernünftiges Warum und einen Nutzen begründen können und einfach anwendbare Regeln im Sprachsystem, ist der Genderstern nicht mehr problematisch.
Gendern in der Gebärdensprache – wie geht das?
Ich selbst kann keine Gebärdensprache. 2022 hatte ich einen Workshop mit Dolmetscherinnen für Gebärdensprache zum Thema Gendern. Sowohl bei der Vorbereitung als auch während des Workshops habe ich viel gelernt.
Die deutsche Gebärdensprache hat weniger Gendermarkierungen als die deutsche Lautsprache. Die Übersetzung von Laut- in Gebärdensprache ist also einfach. Umgekehrt wird es komplizierter: Denn die deutsche Lautsprache fordert eine Gendermarkierung, obwohl die Information in der Gebärde mitunter fehlt.
Eine Dolmetscherin erzählte von einem Ereignis, bei dem sie eine gehörlose Frau zu einem Vorstellungsgespräch begleitete. Die gehörlose Frau wurde gefragt, wie sie hergekommen sei. Sie antwortete mit der Gebärde, dass ihr/ihre… Partner/Partnerin… sie gebracht hat. Die Gebärde für Intimperson ist geschlechtslos. Die Dolmetscherin wusste nicht, ob die Person mit einer Frau oder einem Mann zusammenlebt. Was tun? In der Live-Situation kann sie schwerlich nachfragen. Intimperson wäre wohl die treffende Übersetzung gewesen. Aber das ist in der Lautsprache eher irritierend. Partner*in mit gesprochendem Stern wäre perfekt, wenn sich das Zeichen durchgesetzt hat und so neutral verstanden wird wie Intimperson, nur ohne einen Wortteil „intim“.
Einen Stern als Gebärde gibt es auch, wenn das betont werden soll. Es hängt bei Gehörlosen von den Zielgruppen ab, ob sie davon wissen und ob es ihnen wichtig ist oder nicht. Gehörlose und Schwerhörige sind Menschen wie alle anderen: Manche finden es wichtig, manchen ist es egal, manche finden es unwichtig oder lehnen es ab.
Kann mensch Gendern auch übertreiben?
Der Mensch kann alles übertreiben. Das Wort Kind ist bereits neutral, ebenso das Mitglied und das Opfer. Keine Geschlechtsmarkierung vorhanden. Auch der Mensch oder die Person sind geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen.
Dann gibt es viele Wörter, da ist es Geschmacksfrage und auch Frage der Lesbarkeit, wie weit ich mit dem Gendern gehen möchte. Das betrifft etwa Aufzählungen von Volksgruppen oder der Umgang mit Sachbezeichnungen, in denen ein Maskulinum steckt. Hier ist es sinnvoll im Einzelfall abzuwägen, damit ein fluffiger Satz entsteht. Generell sollten Sterne weder verteufelt noch inflationär gebraucht werden.
Barriere Sprachniveau: Vorsicht mit Fachwörtern und Partizipkonstruktionen
Vorsicht geboten ist bei allen Formulierungen, die das Sprachniveau deutlich erhöhen. Das gilt für Fachsprache, Passiv- und Patrizipalkonstruktionen. Auch für Anglizismen, nur da ist es meistens auch noch ohne Effekt. Denn der Speaker ist ein Mann, die Speakerin eine Frau, warum also nicht gleich Redner*in.
Die oben erwähnte Studie mit Menschen, die auf leichte Sprache angewiesen sind, zeigte, dass diese bereits Probleme mit ungewöhnlichen Partizipien hatten, wie zum Beispiel Teilnehmende. Studierende dagegen wird als bekannt gut verstanden.
Noch schwieriger ist es, wenn das Partizip als Adjektiv vor das Nomen gesetzt wird, um damit ein neues neutrales Wort zu bilden. Formulierungen wie „menstruierende Personen“ oder „gebärende Person“ erhöhen das Sprachniveau deutlich. Frau, Schwangere oder Mutter dagegen wird von allen verstanden.
Gänzlich absurd wird es, wenn von Personen mit Uterus oder Zerfix die Rede ist. Medizinische Fachbegriffe haben in der Allgemeinsprache nichts verloren. Oder fragen Sie mal in der nächsten Fußgängerzone was „Zerfix“ bedeutet. In Bayern hören Sie dann wahrscheinich „Zerfix nuch amol“ als Bestandteil des Fluchens (Zerfix ist dabei eine umgangssprachliche Abkürzung von Kruzifix).
Die Fixierung auf die Vermeidung des Wortes Frau führt auch zu Realsatire, wie das Besipiel einer Transfrau auf Twitter zeigt. Sie bestand darauf, es heiße nicht Frauenarzt sondern Gynäkologe, sonst sei das exkludierend. Dass „gyno“ das griechische Wort für „Frau“ ist, war ihr offenbar unbekannt, was ihrem Eifer keinen Abbruch tat. Das Maskulinum in der Berufsbezeichnung hat sie seltsamerweise nicht gestört.
Realsatire und peinlich ist auch der Gebrauch „entbindende Person“ bei einigen Medien, die eigentlich mehr Sprachwissen haben sollten. Entbinden kommt aus der Geburtshilfe von losbinden, also dem Durchtrennen der Nabelschnur. Dass kann die Hebamme sein, der Vater, die Zweit-Mutter, die Freundin und in eher seltenen Fällen die Mutter und Gebärende selbst.
Neben der Unverständlichkeit für viele kommen bei solchen Konstruktionen noch weitere Probleme dazu: Sie verletzen, entsprechen also nicht den Regeln diskriminieurngsarmer Sprache.
- Viele Frauen fühlen sich als Gebärmaschinen dargestellt und auf weibliche Körperfunktionen reduziert. Zudem ist es inhaltlich falsch: Manche Frauen haben zum Beispiel nach einer Senkung keine Gebärmutter mehr. Frauen menstruieren noch nicht, gerade nicht, weil schwanger, oder nicht mehr, weil in der Menopause. Sind aber stets Frau.
- Dazu kommt ein deutlicher Sexismus-Bias (Flip-Test): Diese seltsamen Organ-Funktion-Begriffe gibt es nur bei Frauen. Niemand spricht von hodentragenden, zeugenden, spermien-produzierenden oder ejakulierenden Personen, auch nicht von Prostata-Besitzern, sondern von Männern.
- Dabei helfen diese Formulierungen noch nicht einmal denen, für die sie eigentlich sind. Transpersonen mit starker Geschlechtsdysphorie wollen nicht permanent an die Körperteile erinnert werden, die sie ablehnen.
Wenn also zum Beispiel eine Frauenärztin zeigen will, dass sie für Trans- und nicht-binäre Personen offen ist, schreibt sie besser: für Frauen, Transmänner sowie nicht-binäre Personen mit weiblichem Körper. Intergeschlechtliche Menschen sind willkommen. Nenn das Kind beim Namen.
Transfrau oder trans Frau: Welche Schreibweise ist inklusiv?
Am Umgang mit dem Begriff „trans“ sagen die einen, es sei eine Vorsilbe, andere, es sei ein Adjektiv. Unabhängig davon ist die Schreibweise Transfrau inklusiver als trans Frau. Aber eines nach dem anderen. Wir bewegen uns hier einem komplexen Grammatikfeld.
Zunächst zur Wortart: Präfix (Vorsilbe) oder Adjektiv?
Jeanne Wellnitz hat in einer Kolumne für den Bundesverband der Kommunikatoren e. V. (BdKom) mit Annette Klosa-Kückelhaus gesprochen. Klosa-Kückelhaus ist die Leiterin des Programmbereichs „Lexikographie und Sprachdokumentation“ beim Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Worbildung ist also ihr wissenschaftliches Fachgebiet.
Sie erklärt, dass „trans“ zu den Vorsilben gehört, wie anti-, inter-, ultra- und so weiter. Wortartwechsel von Vorsilben zu Adjektiven seien bisher nicht bekannt. Falls jemand den Wortteil „trans“ absetzen möchte, schlägt die Wortbildungsexpertin die Bindestrichlösung vor, also Trans-Person.
Der Duden führt „trans“ als Adjektiv auf, umgangssprachlich als Kurzform für transgender, allerdings als nicht-deklinierbares Adjektiv. Das bedeutet, die Verwendung ist nur hinter dem Nomen (prädikativ) richtig. Eine Person ist trans. So auch der Beispielsatz im Duden.
Warum Transfrau, auch wenn trans als Adjektiv betrachtet wird?
Vor dem Nomen (attributiv) müssen Adjektive dekliniert werden: Das ist eine transe Person. Aber das geht nicht, weil nicht-deklinerbares Adjektiv. Anders übrigens bei nicht-binär. Da funktioniert das problemlos: Das ist eine nicht-binäre Person.
Nehmen wir das Beispiel online, ebenfalls ein nicht-deklinierbares Adjektiv. Wir sagen: Die Veranstaltung ist online. Aber: Das ist eine Online-Veranstaltung. Auch eine Zusammenschreibung wäre richtig (Onlineveranstaltung), aber schwerer lesbar.
Die Transfrau und der Transmann, die Detrans-Person, eine Cis-Person oder eine Interperson. Ob mit oder ohne Bindestrich ist eine Frage der Lesbarkeit und der persönlichen Vorliebe.
Warum ist das wichtig?
Wir leben in einem Einwanderungsland. Die Adjektivdeklination ist für Leute, die Deutsch lernen, ohnehin schwer.
- Adjektive müssen nach Numerus, Genus und Kasus dekliniert werden.
- Zu unterscheiden sind bestimmte und unbestimmte Artikel auch bei der Adjektivdeklination.
- Je nach Wortbildung werden die Deklinationen unterschiedlich gebildet.
- Es gibt sie in drei Steigerungsformen.
- Und zu allem Übel gibt es Unterschiede, je nachdem, wo das Adjektiv im Satz steht (siehe oben: attributiv oder prädikativ).
Ich habe 3,5 Jahre Deutsch als Zielsprache unterrichtet und bin in den Genuss gekommen, dieses komplexe System mit Studierenden einzuüben. Ich halte es für absolut exkludierend, hier für die Lernenden noch Ausnahmen von Ausnahmen zu konstruieren, die inhaltlich noch dazu verwirren.
Viele Menschen haben bereits Schwierigkeiten, die Begriffe Transfrau und Transmann richtig zu verstehen. Intuitiv halten sie die Transfrau für eine Frau, die als Mann lebt. Dabei ist es umgekehrt ein Mann, der als Frau lebt. Diese kognitive Dissonanz zu überwinden verbraucht bereits eine Menge Arbeitsspeicher. Dazu kommen zu trans jede Menge weiterer neuer Wörter, die ebenfalls erst einmal gelernt und verstanden werden müssen, wie inter, nicht-binär, detrans. Es gibt also bereits eine Menge Arbeit für das Gehirn.
Vorsicht beim Wort cis. Zunächst war es einfach als Gegenstück zu trans gedacht. Aber hierzu hat sich immer mehr Widerstand geregt, auch befördert dadurch, dass der Begriff von Trans-Aktivist*innen anderen gegenüber oft als abwertend verwendet wurde. Viele Menschen lehnen es ab, als cis bezeichnet zu werden und empfinden das als beleidigend. Sie sagen: Ich bin ein Mann, eine Frau und meinen das Körpergeschlecht. Meine Identität entspricht nicht den damit verbundenen Geschlechterstereotypen. Deshalb kann ich nicht cis sein.
Es bleibt komplex. Es braucht Fingerspitzengefühl. Und manchmal ist es auch zum Haare raufen. Ich wünsche mir viel weniger Ideologie und Emotion in der Debatte und mehr Sachlichkeit und Argumente.
Barrierefreiheit: Verständlich und leicht lesbar – ein paar einfache Tricks
Es gibt aber auch ganz einfache Tricks, wie du Barrieren in deinen Texten vermeiden kannst.
Klare Struktur
Achte auf eine klare Struktur. Wilhelm Busch formulierte es so: „Sag es klar und angenehm, was erstens, zweitens, drittens käm.“ Anders gesagt: Eine Person muss sich die Arbeit machen: entweder die, die schreibt oder die, die das Gelesene deuten soll.
In einer Zeit, in der wir alle von Information überschüttet werden, ist es eine Zumutung, diese Arbeit auf die Leser*in abzuwälzen. Und sie schadet dir am Ende selber, weil du entweder nicht verstanden oder gar nicht erst gelesen wirst.
Sparsam mit Anglizismen und anderen Fremdwörtern
Denglisch wird weder von Englisch- noch von Deutsch-Muttersprachler*innen gut verstanden. Nutze Anglizismen, besonders Fach- und Szene-Begriffe sparsam und setze sie nicht voraus.
Gerade Anglizismen im Business-Kontext werden oft nicht oder nur halb oder anders verstanden, als sie gemeint sind. Bereits 2019 habe ich ausführlich in einem Blogartikel damit befasst.
Aber auch im Kontext von Intersektionalität und Inklusion passiert sprachlich manchmal genau das Gegenteil: Sprache wird exkludierend, weil sie Konzepte und Wörter als bekannt voraussetzt, die es nicht sind.
Nutze also möglichst die Wörter, die deine Zielgruppe kennt und versteht. Wenn du bestimmte Fachwörter und Anglizmen brauchst, erkläre sie elegant in einem Halbsatz oder ergänze deinen Text um einen Kasten mit Begriffserklärungen und unterstütze so die Verständlichkeit deiner Texte.
Rechtschreibung und Kommasetzung
Achte auf Rechtschreibung und Kommasetzung. Rechtschreibregeln helfen unserem Gehirn, den Inhalt schneller und eindeutiger zu erfassen. Digitale Tools helfen dir, sie zu beachten.
Gerade Anglizismen werden öfters falsch als richtig geschrieben.
Daumenregel: Deutscher Satz, deutsche Regeln. Das bedeutet:
- Nomen werden großgeschrieben. Personal Branding, Social Media, Sensitivity-Reading
- Mehrteilige Nomen werden gekoppelt: Worst-Case-Szenario, Do-it-yourself-Video.
- Verben werden nach deutschen Regeln konjugiert: gelikt, refurbisht, gechillt.
„Auch längere Anglizismus-Verbindungen muss ich koppeln oder zusammenschreiben. Beim Koppeln schreibe ich den ersten Buchstaben und die enthaltenen Substantive groß, die sonstigen Bestandteile klein.“
Annika Lamer: Rechtschreibung Klipp und Klar erklärt, Seite 267
Im Folgenden zwei Blogbeiträge, die auf die korrekte Schreibung von Anglizismen eingehen: Nomen und Verben.
Abkürzungen, Mengenangaben und andere Zeichen
Zeichen wie §, %, € stören im Fließtext den Lesefluss ebenso wie kg, m oder h. Besseren Lesefluss und damit weniger Barrieren bekommst du, wenn du Prozentangaben, Paragraphen, Mengenangaben ausschreibst.
Abkürzungen wie z.B. , bzw. oder etc. werden von Sreenreadern wörtlich vorgelesen, also Zett Punkt Be Punkt oder Be Zett We Punkt. Schreib also zum Beispiel und beziehungsweise als ganzes Wort. Und wenn du nicht weißt, wie etcetera geschrieben wird, schreib es auf Deutsch: und so weiter.
Fluffig, unterhaltsam und verständlich gendern: Geht das?
Jetzt denkst du vielleicht: Uff, ist das viel. Wie soll ich das alles unter einen Hut bringen? Ist es überhaupt möglich, gendergerecht und dabei fluffig, unterhaltsam, verständlich und barrierefrei zu schreiben?
Ja. Es ist möglich. Wichtig ist, nicht dogmatisch an die Sache heranzugehen, sondern neugierig, ausprobierend, lernend. Insbesondere, wenn du dich auf die Regeln und Möglichkeiten unserer schönen deutschen Sprache einlässt, öffnet sich dir eine kreative Spielwiese.
Wie lässt sich das besser zeigen als in einem Buch? Im März 2023 erschien mein Buch „Alle(s) Gender. Wie kommt das Geschlecht in den Kopf?“. Inhaltlich geht es nicht um Gendersprache, sondern um Geschlechterstereotpye, geschlechtliche Vielfalt, das Patriarchat und das Selbstbestimmungsgesetz. Aber das Buch ist in geschlechtergerechter Sprache geschrieben und tritt auf über 300 Seiten den Beweis an, dass es funktioniert.
Linkliste
Barrierefreiheit-Informationstechnik-Verordnung: https://www.gesetze-im-internet.de/bitv_2_0/BJNR184300011.html
Begriffe über Behinderung von A bis Z: https://leidmedien.de/begriffe/
Broschüre Leidmedien, 2020: https://leidmedien.de/journalistische-tipps/leitfaeden/leidmedien-broschuere/
Bundesfachstelle Barrierefreiheit: https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Fachwissen/Informationstechnik/EU-Webseitenrichtlinie/BGG-und-BITV-2-0/Die-neue-BITV-2-0/die-neue-bitv-2-0_node.html
Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband, Empfehlung Gendern, März 2021: https://www.dbsv.org/gendern.html
Jeanne Welltnitz: Heißt des trans Person oder Transperson: https://bdkom.de/aktivitaeten/meldungen/gross-oder-klein-heisst-es-trans-person-oder-transperson
Leicht verständliche und genderfaire Sprache, Studie aus Graz: https://www.capito.eu/genderstudie/
Rechtschreibrat: https://www.rechtschreibrat.com/geschlechtergerechte-schreibung-empfehlungen-vom-26-03-2021/
Rechtschreibrat: https://www.rechtschreibrat.com/amtliches-regelwerk-der-deutschen-rechtschreibung-ergaenzungspassus-sonderzeichen/
Rheingold Marktforschung, Studie Gendern: https://www.rheingold-marktforschung.de/rheingold-studien/stolperfalle-gendern/
Sprachniveau nach dem Europäischen Referenzrahmen: https://www.europaeischer-referenzrahmen.de/sprachniveau.php
Tipps für Journalist*innen Paralympics 2020: https://leidmedien.de/journalistische-tipps/leitfaeden/tipps-fuer-medien-paralympics-2020-in-tokio/
Koehler, Stefanie (Tandem-Beratung Leichte Sprache, BFIT-Bund) und
Wahl, Michael (Leitung, BFIT-Bund): Empfehlung zu gendergerechter, digital barrierefreier Sprache, Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik: Empfehlung zu gendergerechter, digital barrierefreier Sprache – eine repräsentative Studie, September 2021
Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT): Die digitale Barrierefreiheit auf der semiotischen Ebene der Genderzeichen, 21. November 2023, https://www.bfit-bund.de/DE/Publikation/digitale-barrierefreiheit-semiotik-genderzeichen.html
UN Behindertenrechtskonvention: https://www.behindertenrechtskonvention.info/
Nie wieder einen Blogbeitrag verpassen
Bild: Canva, Sigi Lieb
Hallo,
haben Sie vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Ich bitte Sie, meinen ersten Beitrag nicht als persönlichen Angriff oder dergleichen anzusehen, das schwingt gefühlt in Ihrer Antwort etwas mit.
Sie haben natürlich vollkommen Recht mit Ihrer Feststellung, dass es sowohl unter Menschen mit Behinderungen als auch unter Menschen ohne Behinderungen unterschiedliche Meinungen gibt.
Eine Meinung ist aber eine individuelle Haltung zu einem bzw. eine individuelle Bewertung eines Sachverhalt(es).
Natürlich werden Barrieren auch innerhalb der Bedarfsgruppen individuell wahrgenommen, was ebenfalls auf Menschen ohne Behinderungen zutrifft. Es ist daher schwer zu argumentieren: „Das ist aber so, anders ist es falsch“.
Dennoch gibt es Interessenvertretungen, die für bestimmte Gruppen sprechen. Solange der Zugang zur Mitgliedschaft dieser Interessensvertretungen allen frei steht, kann eine solche Vertretung Haltungen und Standpunkte entwickeln, die eine Gültigkeit haben.
Sie haben in Ihrer Antwort meinen eigentlichen Kritikpunkt leider nicht aufgenommen: Da Sie den DBSV nur punktuell zitieren, steht das verwendete Zitat außerhalb des Kontextes. In der Diskussion wird dieses Teilzitat sehr häufig mit dem Ziel verwendet, eine eindeutige Position des DBSV, und damit aller sehbehinderten Menschen, zu suggerieren.
Das vollständige Zitat zeichnet jedoch ein anderes Bild. Die Verwendung von Sonderzeichen lehnt der DBSV ausdrücklich ab, weil sie aus seiner Expertenmeinung eine Behinderung darstellen. Das ist die Aussage des DBSV.
Der DBSV hat knapp 40.000 Mitglieder und vertritt die Interessen dieser Bedarfsgruppe. Wenn sie ihn im Sinnzusammenhang falsch zitieren, dann halte ich dies nicht für fragwürdig. In Ihrem zweiten verlinkten Beitrag zitieren Sie den DBSV leider ebenfalls nur unvollständig.
Auch innerhalb des DBSV wird es unterschiedliche Haltungen zur Verwendung von Sonderzeichen geben. Am Ende ist die eindeutige Stellungnahme jedoch zu akzeptieren. Anderenfalls würde die Legitimation dieser Einrichtung in Frage gestellt werden.
In der Tat sprechen Sie weiteren Bedarfsgruppen an, kommen jedoch nicht zu einer wirklichen Empfehlung. Nach den Absätzen zu Personen aus dem Autismusspektrum geht es beim Punkt Wahrnehmbarkeit z.B. wieder nur um Screenreader. Das betrifft aber die meisten Menschen aus dem Autismusspektrum überhaupt nicht. Außerdem sind Screenreader das eine, Braillezeilen etwas anderes.
Studien und/oder Arbeiten aus den Interessenvertretungen der weiteren Bedarfsgruppen sind mir leider nicht bekannt, was ich bedauere. Ich beobachte aber die Diskussion (ich bin übrigens durch reinen Zufall auf Ihren Beitrag gestoßen) und finde immer wieder mal Äußerungen von Interessensgruppen, die Menschen mit solchen Behinderungen und oder chronischen Krankheiten vertreten, die häufig nicht Teil einer breiten Diskussion sind, vertreten. Um ein Beispiel zu nennen: Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.: https://youtu.be/cSOTWZVVC58?si=BzdaF5a08Wz8M7TH&t=1707 (im Übrigen eine sehr interessante Diskussionsrunde, es dauert jedoch recht lange, bis wirklich Positionen ausgetauscht werden).
Da Sie explizit nach mir bekannten Studien fragten, möchte ich allerdings noch etwas zu den Arbeiten kommentieren, die Sie in diesem Beitrag heranziehen. Sowohl die Capito-Arbeit als auch die Arbeit der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit in der Informationstechnik sind nicht wirklich aussagekräftig und halten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand:
Die Capito-Arbeit hat 54 Menschen auf drei Prüfgruppen verteilt befragt. Weder wissen wir, wie sich diese 54 Menschen auf die drei Gruppen verteilt haben, noch wissen wir, wie viele der Menschen innerhalb dieser Prüfgruppen auf alle Fragen geantwortet haben. Es waren pro Gruppe „mindestens drei“, wir können also vermutlich sogar davon ausgehen, dass es eine Gruppe gab, in der auch nur drei Personen befragt wurden. N-Zahlen werden nicht angegeben, daher sind die Aussagen nicht überprüfbar. 54 befragte Menschen bilden zudem keine ausreichend große Stichprobe, um belastbare Aussagen zu treffen. Genau das tut die Arbeit aber.
Auch mit der finalen Bewertung und des Fazits habe ich Probleme: Wenn wir einmal die methodischen Mängel außer Acht lassen, dann zeigt die Studie eines ganz klar: Alle 54 Menschen haben große Verständnisprobleme beim Einsatz des Gendersterns bei Artikeln und Pronomen (gleiches gilt für den Doppelpunkt und auch, da haben Sie Recht, Partizipformen). Lediglich die Neutralisierung wurde von allen Befragten verstanden. Die Conclusio, bei A2 und B1 kann ein Genderstern Verwendung finden, ignoriert das Durchfallen in dieser Kategorie leider völlig. Dass die Studie entgegen der Ergebnisse nicht auf Neutralformen ausweicht, irritiert dann zusätzlich. (Und Zusatzbemerkung: Die Arbeit argumentiert, dass der Doppelpunkt eine Aufgabe habe, er sei nämlich ein Satzzeichen und damit ungeeigneter. Der Stern hat ebenfalls eine Aufgabe: Er steht z.B. für eine Fußnote oder als Abkürzung für ein Geburtsdatum. Dies hinterlässt bei mir den Eindruck, dass Argumente mindestens nicht zu Ende gedacht wurden. Das darf bei einer echten Studie aber nicht passieren).
Die gleichen Kritikpunkte äußere ich an der Arbeit der Überwachungsstelle. Diese scheint in der Zwischenzeit zurückgezogen worden sein, vermutlich aus gutem Grund: Auch hier war die Anzahl der Befragten nicht ausreichend, um von einer statistischen Auffälligkeit zu sprechen. N-Zahlen fehlten dort genauso wie in der Capito-Arbeit. Es war also nicht klar, ob nun 1 Person, 200, 400 oder 3000 befragte Menschen aus den Bedarfsgruppen eine Einschätzung abgegeben haben. Die Arbeit untersuchte lediglich den Genderstern (Asterix) im Vergleich mit dem Doppelpunkt. Andere Genderformen wurden nicht behandelt. Die Arbeit ist also themenbezogen nur sehr eingeschränkt gewesen.
Dennoch hatte diese Studie in der technischen Prüfung klar ergeben, dass sowohl Genderstern als auch Doppelpunkt beim Einsatz von Screenreadern eine Barriere darstellen. Gelöst werden könne das nur vollständig, wenn der Screenreader gar keine Satzzeichen vorliest. Das ist realitätsfern.
Diese Teilerkenntnis hatte dennoch nicht dazu geführt, Sonderzeichen als barriereunfrei einzustufen. Das empfinde ich als merkwürdig.
Zum Schluss von mir noch eine Anmerkung: Sie empfehlen bei der Verwendung des Sterns Artikel nicht zu gendern. Ich kann Ihr Argument nachvollziehen, halte es jedoch für zu einfach gedacht. Wenn wir die grundlegende Idee hinter der Gendersprache bzw. die Nutzung von Sonderzeichen umfassend ernst nehmen, führt kein Weg daran vorbei, auch Artikel zu gendern. Sonst laufen Sie Gefahr, an dieser Stelle Menschen potentiell zu diskriminieren.
Vielleicht sollten wir abwarten, was aus der Community (federführend der Verein für geschlechtsneutrales Deutsch e.V.) heraus an praktikablen Vorschlägen kommt und uns dann damit auseinandersetzen (der Verein setzt sich für das De-e-System ein).
Aysun
Ich respektiere Ihre Kritik. Nur geht sie meiner Meinung nach am Inhalt meines Textes vorbei. Sie unterstellen mir allerhand Nachlässigkeiten, die ich zurückweisen möchte. Die Quellen sind alle verlinkt. Und in den anderen Blogbeiträgen hier zum Thema sind noch mehr verlinkt. Es ist unmöglich, es allen recht zu machen. Deshalb braucht es Kompromissfähigkeit und Pragmatismus.
Natürlich dürfen sie andere Vorschläge machen. Meine Erfahrung sagt mir: Es setzt sich am Ende durch, was viele Sprach-Benutzer*innen für praktisch und sinnvoll halten und es deshalb nutzen. Sprachwandel ist immer ein gemeinsamer Prozess einer Sprachgemeinschaft.
Hallo,
Sie schreiben: „Manchmal werden Narrative im guten Glauben übernommen und weitergetragen“.
Leider bedienen Sie im Folgenden ebenfalls ein Narrativ.
Der DBSV schreibt in seiner Stellungnahme explizit zur Verwendung von Gender-Kurzformen:
„Diese sind für viele blinde und sehbehinderte Menschen problematisch, wie den folgenden Erläuterungen entnommen werden kann, und deshalb nicht zu empfehlen.“
Das widerspricht dem gängigen Narrativ, der DBSV habe den Genderstern erlaubt. Er lehnt dagegen Gender-Kurzformen explizit ab, weil Sie für sehbehinderte Menschen Barrieren darstellen.
Da Sie leider den entscheidenden Absatz nicht zitieren, sondern lediglich die Ergänzung, wenn jemand bewusst gegen die Empfehlung gendern möchte, solle er oder sie am besten den Genderstern nutzen, tragen sie zur Verbreitung dieses Narrativ leider unmittelbar bei.
Was mir in Ihrem Beitrag grundsätzlich fehlt:
Sie sprechen die Sehbehinderten als Bedarfsgruppe an. Was ist aber mir den anderen Bedarfsgruppen, die durch die Verwendung von Sonderzeichen gestört werden? Menschen mit Leseschwäche z.B.? Oder Menschen mit kognitiven Einschränkungen? Und Menschen mit fremdsprachigem Hintergrund?
Bei der Auseinandersetzung mit diesen (Bedarfs-)gruppen werden Sie feststellen, dass die Verwendung von Sonderzeichen eine viel größere Anzahl an Menschen behindert (und damit leider diskriminiert), als vielen bewusst ist.
Vielleicht können Sie Ihren Beitrag entsprechend ergänzen, auch wenn Sie vermutlich zu einem anderen Schluss kommen werden.
Sehr geehrt*er Aysun, vielen Dank für Ihren Kommentar. Unter blinden Menchen gibt es die gleiche Meinungsvielfalt wie unter sehenden. Die blinden Personen, die ich persönlich gesprochen habe, finden den Stern gut und verwenden ihn selbst. Hier ein älterer Blogartikel, bei dem mir eine blinde Netzwerk-Kollegin geholfen hat: https://www.gespraechswert.de/barrierefreiheit-kommunikation-tipps/
Sie fragen nach anderen Bedarfsgruppen: Darauf gehe ich doch im weiteren Textverlauf ein, unter anderem mit der Studie aus Graz, die getestet hat, welche Formen für Menchen verständlich sind, die auf leichte Sprache angewiesen sind.
Auf diesen Text hin haben sich Menschen mit LRS und Autismus bei mir gemeldet. Und im Gespräch haben wir festgestellt, dass viele Sterne stören, dass sie behutsam eingesetzt aber gut lesbar sind. Das entspricht der im Artikel erwähnten Studie.
Einen neueren Artikel zum Thema habe ich für genderleicht.de geschrieben, hier: https://www.genderleicht.de/barrierefrei-gendern-was-soll-ich-beachten/
Sie vertreten Ihre Ansichten mit einer großen Überzeugung und sagen, ich würde Bedarfsgruppen übersehen. Sehbehinderung, Blindheit, Gehörlosigkeit, LRS, Autismus, Sprachwissen, Lesekompetenz habe ich im Blick, was fehlt? Haben Sie Studien zu Verständlichkeit bestimmter Genderformen für bestimmte Bedarfsgruppen? Verlinken Sie die gerne. Ich lerne gerne dazu.
Liebe Sigi
heisst Dein Buch und ist empfehlenswert! Ich bin zwar noch nicht durch, da ich immer gleichzeitig mehrere Bücher lese, und doch hatte ich bereits viele Aha-Erlebnisse. Eine separate Rezension wird noch folgen.
Aktuell läuft es in der Politik im DACH-Raum ja extrem rund, man ist auf der Jagd nach all den Gender-Terroristen. Nicht nur in der Politik ein riesengrosses Thema, nein auch im ach so professionellen und seriösen Businessnetzwerk LinkedIn. In etlichen Diskussionen habe ich vielen gesagt, dass Gender nicht nur aus dem * und der deutschen Sprache besteht, dafür bekam ich dann etliche Titulierungen, die ich hier lieber nicht wiederhole. So what und who cares.
Lange Rede, kurzer Sinn: Sigi, go for it! Dank Leuten wie Dir können wir auch im „hohen Alter“ wie ich (ich geh auch schon gegen 50, muss jedoch nicht sagen, von welcher Seite…) noch etwas dazulernen.
Beste Grüsse
Beat S., der anonyme Internet-Troll
Liebe Sigi Lieb,
herzlichen Dank für diesen ausführlichen Beitrag. Er gibt doch immer wieder Denkanstöße, wie man die eigenen Texte noch optimieren kann. Über manches hatte ich so noch nie nachgedacht, so zum Beispiel Abkürzungen. Das wird wohl meine erste Neuerung sein, wenn ich demnächst Blogbeiträge überarbeite. Herzlichen Dank dafür. Wir verwenden übrigens den Doppelpunkt, werden aber darüber nachdenken, ob wir nicht doch wieder zum Sternchen zurückkehren. Wir sind wohl dem Irrtum aufgesessen, dass der Doppelpunkt inklusiver ist. Tja, wohl nicht 😉
Beste Grüße
Dana Reinhardt
Sehr geehrte Frau Lieb,
(ich hoffe Frau ist die richtige Ansprache für Sie)
toller Buchtitel, hier kommen Sie schon bei dem ersten Wort nicht ohne (Sonderzeichen) aus.
Ich bin beeindruckt wie intensiv Sie sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, wenngleich Ihr Text nicht frei von Fachausdrücken und nicht allgemein bekannten Abkürzungen ist.
Ich stimme absolut zu, einen Text verständlich zu formulieren. Bestimmte Fachbegriffe so zu umschreiben, dass der Text dadurch nicht verständlicher wird, aber auf Fachbegriffe verzichtet, ist nicht zielführend. Dann kann zwar jeder mit einfacheren Vokabeln den Text lesen, aber auch verstehen?
sicherlich ist es schwer Deutsch als Zielsprache zu erlernen, aber sollten wir deshalb diese schöne Sprache vereinfachen?
Ich danke Ihnen für den ausführlichen und gut gegliederten Beitrag, ich habe mit Interesse bis zum Schluß gelesen.
Mit freundlichem Gruß
Oliver Roßbach
Sehr geehrter Oliver Roßbach,
vielen Dank für Ihren Beitrag und Ihr Lob.
Was meinen Sie mit Sonderzeichen im Titel meines Buches? Die Klammern? Es handelt sich um ein Wortspiel, welches mit dem orthografischen Element der Klammer erzeugt wird. Das ist weder neu noch besonders. Ob jemand ‚Alle Gender‘ liest oder ‚Alles Gender‘ liest oder beides tut dem grundlegenden Verständnis, worum es geht, keinen Abbruch.
Darf ich Sie fragen, welche Fachausdrücke im Text Ihnen unbekannt sind? Wenn ich über Grammatik rede, kann ich Fachwörter nicht vermeiden. Gleiches gilt, wenn ich über Diversity spreche. Ich bin jedoch bemüht, Begriffe jeweils zu erklären. Für komplexere Begriffe habe ich eigene Blogbeiträge. Die finden Sie unter Glossar. Auch mein Buch enthält am Ende ein Glossar mit den wichtigsten Fachausdrücken, die ich schlicht brauche, wenn ich zu dem Thema schreiben will. Aber natürlich übersehe ich mal was oder setze Begriffe irrtümlich voraus. Daher danke ich Ihnen, wenn Sie mir mitteilen, welche Wörter in obigem Text Sie meinen.