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Intergeschlecht im Frauensport – Was ist fair?

Nachdem Imane Khelif aus Algerien am 1. August 2024 in nur 46 Sekunden Boxkampf die Italienerin Angela Carini besiegte, brach eine Welle der Entrüstung los. Die Schlagzeilen überboten sich bis hin zu „Mann verprügelt Frau“. Auf Twitter trendeten zahlreiche Hashtags mit Bezug zu diesem Boxkampf. Auch Linkedin und andere Social-Media-Plattformen waren voll von Antworten auf die Frage: War dieser Wettkampf fair?

Die Wirklichkeit dahinter ist komplex. Einfache Ja-nein-Antworten werden ihr nicht gerecht. In diesem Blogartikel gehe ich auf Fragen zu dem Fall ein, erkläre, was Intergeschlecht ist und versuche, die hitzige Debatte zu versachlichen.

Intergeschlecht Boxen | Fairer Wettbewerb | Frauensport Debatte, Demokratie und Medien, Geschlecht und Gender, Glossar

Wer ist Imane Khelif und was ist passiert?

Imane Khelif wurde in Algerien geboren und dort als Mädchen registiert. Sie nimmt seit sechs Jahren an Boxkämpfen in der Frauenkategorie teil. Bei einem Geschlechtstest des Internationalen Boxverbands IBA für die WM 2023 fielen sie sowie die Boxer*in Lin Yu-Ting aus Taiwan durch und wurden für die Frauenkategorie disqualifiziert.

Das IOC erkennt wegen Korruptionsvorwürfen die IBA aber nicht mehr an und hat seine eigenen Regeln für die Teilnahme aufgestellt. Weil bei beiden im Pass „weiblich“ steht und das auch schon in der Geburtsurkunde stand, wurden sie ohne weitere Tests für das Frauenboxen bei Olympia 2024 in Paris zugelassen.

IOC-Präsident Thomas Bach auf einer Pressekonferenz:

Recherche kostet Zeit

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„We are talking about women’s boxing. We have two boxers who were born as women, raised as women, who have passports as wo men and who have competed for many years as women and this is a clear definition of a woman“

Thomas BACH auf PK, Reuters-Artikel

Bereits im Vorfeld gab es Diskussion um Khelif und Yu-Ting. Allerdings wurden sie meist falsch als Transgender bezeichnet. Das queer-aktivistische Kampfmedium queer-de schrieb am 31. Juli 2024: „Streit um zwei „trans“ Boxerinnen bei Olympia“. T-Online titelte, ebenfalls am 31. Juli 2024: „Nach WM-Ausschluss – Wende bei Olympia: Transgender-Boxerinnen starten in Paris“. Am 2. August 2024 hatte T-Online die Überschrift des Artikels geändert in: „Nach WM-Ausschluss – Wende bei Olympia: Kontroverse Boxerinnen starten in Paris“. Auch die URL wurde angepasst. Bei queer-de steht weiterhin „trans“, wenn auch in Anführungszeichen.

Weder Khelif noch Yu-Ting sind Transgender. Beide sind seit Geburt als weiblich eingetragen. Nach allem, was bisher bekannt ist, sind beide wohl von DSD-Varianten betroffen und intergeschlechtlich.

Intergeschlecht ist im Unterschied zu Transgeschlechtlichkeit in der Öffentlichkeit weit weniger bekannt. Hier also ein kleiner Exkurs, wie biologisches Geschlecht entsteht.

Wie entsteht das biologische Geschlecht?

Zunächst sind in jedem Embryo alle Anlagen vorhanden, die wahlweise ein Mädchen oder einen Jungen entstehen lassen. Der Standardprozess ist auf ein Mädchen ausgelegt. Damit ein Junge entstehen kann, braucht es das Gen SRY, das auf dem Y-Chromosom zu finden ist. Sonst ist nicht viel auf dem Y-Chromosom, deswegen ist es das einzige Chromosom, auf das ein Mensch verzichten kann.

Ist das SRY-Gen vorhanden, regt es die Ausbildung von Hoden an. Diese produzieren Testosteron und steuern die weitere Ausbildung männlicher Geschlechtsmerkmale. Fehlt das SRY-Gen entsteht ein Mädchen.

Dieser Prozess ist komplex und abhängig von vielen Faktoren und mehreren Genen, die nicht alle auf den Geschlechtschromosomen X und Y liegen. Daher kann es passieren, dass etwas anders läuft als im Standardprozess und ein Baby geboren wird, das dem Augenschein nach aussieht wie ein Junge oder wie ein Mädchen, aber köperlich auch Merkmale des jeweils anderen Geschlechts in sich trägt.

Was genau bedeutet Intergeschlecht?

Intergeschlechtlichkeit ist eine Untergruppe der Differences of Sexual Development, kurz DSD oder deutsch: Varianten der Geschlechtsentwicklung. Und derer gibt es viele. Nicht alle sind intergeschlechtlich. DSD liegt zum Beispiel auch vor, wenn ein Junge mit dem Harnausgang am Schaft statt an der Penisspitze oder ein Mädchen ohne Gebärmutter geboren wird, ohne dass Merkmale des anderen Geschlechts im Körper vorliegen.

Von Intergeschlechtlichkeit wird gesprochen, wenn ein Teil der Geschlechtsmerkmale auf das eine, ein Teil auf das andere Geschlecht verweisen. Ein Baby wird zum Beispiel trotz XY-Chromosomen mit innenliegenden Hoden und Vulva geboren, sieht von außen also aus wie ein Mädchen, im Körper wirken aber auch männliche Merkmale.

Welche DSD-Varianten als intergeschlechtlich gelten, ist wissenschaftlich nicht einheitlich definiert. Hier einige Varianten, die zu gemischgeschlechtlichen Körpermerkmalen führen:

Bei CAIS (vollständige Androgen-Resistenz) funktionieren die Rezeptoren für das Testosteron nicht. CAIS-Personen haben zwar XY und innenliegende Hoden, können aber nicht vermännlichen, weil der Körper das Testosteron in Estradiol, also weibliche Hormone umwandelt.

5-alpha-Reduktase-Mangel (5-ARD) wird durch den Mangel eines Enzyms verursacht, Swyer durch einen Defekt im Y-Chromosom. All diese Formen führen dazu, dass Babys bei Geburt tendenziell aussehen wie Mädchen, obwohl sie XY-Chromosomen haben. Das kann in der Pubertät zu einer teilweisen Vermännlichung führen. Die Evolutionsbiologin und Autorin des Buches „T wie Testosteron“ erklärt auf Twitter (X) in zwei langen Tweets, wie es zu 5-ARD kommt und was das bedeutet.

Dann gibt es Varianten, bei denen sich je nach Ausprägung mehr oder weniger gemischtgeschlechtliche Merkmale ausbilden, etwa bei PAIS, wenn die Testosteron-Rezeptoren teilweise funktionieren oder bei Turner-Varianten, bei denen das zweite Geschlechtschromosom teilweise vorhanden und Y ist. Hier gibt es Varianten von deutlicher Intergeschlechtlichkeit bis zu unauffällig männlich.

Auch gibt es Chimären mit zwei verschiedenen Chromosomen-Sätzen. Das heißt: Ein Teil der Zellen enthält XX, ein Teil der Zellen XY. Das passiert zum Beispiel, wenn zwei befruchtete Eizellen in einem frühen Stadium zu einem Embryo verschmelzen, quasi der umgekehrte Prozess von eineiigen Zwilligen, ein zweieiiger Einling.

Eine relativ häufige DSD-Variante ist Klinefelter (XXY), die im Regelfall als Junge eingetragen werden, möglicherweise in der Pubertät aber einen Busen ausbilden. Im Standard werden sie vermännlichend behandelt. Aber nicht alle Klinefelter möchten das.

In meinem Buch „Alle(s) Gender“ gehe ich auf verschiedene Intervarianten ein und mehrere Interpersonen erzählen aus ihrem (Er-)Leben.

Darum können Interpersonen nicht cis sein

Die Bezeichnung „bei Geburt zugewiesenes Geschlecht“ wurde ursprünglich für genau diese Personengruppe geschaffen. Bis heute wird das Geschlecht eines Babys weltweit im Wesentlichen mit einem Blick zwischen die Beine bestimmt. Ist dort ein Penis, wird männlich in die Geburtsurkunde eingetragen. Ist dort eine Vulva, weiblich. Im vorangegangenen Absatz hast du gesehen, dass das nicht immer so ganz stimmen muss.

Die Bezeichnung „cis“ wurde als Gegensatz zu „trans“ geschaffen und ist umstritten, weil es sich eher auf Genderstereotype bezieht. Da bei Interpersonen die biologische Realität mehrdeutig ist, können sie qua Definition nicht cis sein. Es ist ihr Körper, der uneindeutig ist. Deshalb haben Interpersonen die Möglichkeit bekommen, den Geschlechtseintrag streichen zu lassen. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht 2017 entschieden, dass Intergeschlechtliche einen eigenen positiven Geschlechtseintrag bekommen.

Für die Ordnung im Begriffsdschungel zu Gender und Geschlecht habe ich schon vor einiger Zeit einen eigenen Blogbeitrag geschrieben.

Ergänzung: Weil ich zu meiner Kritik kritisiert wurde, diese Ergänzung: Was genau bedeutet „cis“ denn nun? Für viele bedeutet cis: Identität entspricht dem biologischen Geschlecht. Das ist die Definition, die ich oben verwende. Eine weitere große Gruppe lehnt den Begriff cis kategorisch ab, nicht zuletzt, weil er häufig als abwertender Begriff gegen biologische Frauen verwendet wird. Offenbar gibt es eine dritte Gruppe, die unter cis versteht, Identität entspricht dem bei Geburt eingetragenen Geschlecht. Diese Interpretation hat aus meiner Sicht jedoch einen Logikfehler, denn das würde bedeuten: Wenn bei Geburt kein Geschlecht zugewiesen/eingetragen wird, hätten diese Menschen auch keine Identität.

Was bedeutet Intergeschlecht für die Betroffenen?

Viele Interpersonen haben in der Vergangenheit viel Leid erfahren und waren Spielball medizinischer Entscheidungen, zu denen sie nicht gefragt und über die sie im Unklaren gelassen wurden. Interkinder ohne Einwilligungsfähigkeit geschlechtszuweisend zu behandeln ist in Deutschland erst seit 2021 verboten. Weltweit wird es weiterhin vielerorts praktiziert.

Eine der Personen in meinem Buch ist Renate (Name geändert). Sie erfuhr erst mit 50 Jahren, dass sie XY-Chromosomen und einen innenliegenden Hoden hat. Es war ein Schock für Renate. Zu diesem Zeitpunkt war sie seit vielen Jahren mit ihrem Mann verheiratet. Renate lebt auf dem Dorf. Von Ärzt*innen war sie zuvor belogen worden. Die wussten wohl, dass Renate intergeschlechtlich ist, haben ihr aber gesagt, sie sei eine Frau, könne bloß keine Kinder bekommen.

Fast alle Interpersonen, die für mein Buch mit mir gesprochen haben, wollten anonym bleiben. Kaum jemand outet sich in seinem Umfeld als inter. Zu groß ist die Angst vor Mobbing und sozialer Ausgrenzung. Zudem viele Interpersonen in ihrer Kindheit und Jugend Mobbing erfahren haben.

Was aber bedeutet das für Imane Khelif oder für Lin Yu-Ting, die ihr Leben lang als Mädchen/Frauen galten. Wenn eine solche andere Wahrheit im Körper bekannt wird, ist das für die Betroffenen erst einmal etwas, das sie verarbeiten müssen. Und wenn sich in einer vergleichsweise offenen Gesellschaft wie Deutschland Interpersonen nicht als inter outen, wie muss das erst in streng binären und konservativen Gesellschaften sein?

Ist Imane Khelif intergeschlechtlich?

Es spricht vieles dafür. Bei der WM 2023 scheiterte sie wie ihre Boxer-Kollegin Lin Yu-Ting aus Taiwan am Geschlechtstest. Getestet wurde laut IBA nicht der Testosteron-Spiegel. Dazu schreibt die IBA in ihrem Statement vom 31. Juli 2024

„Point to note, the athletes did not undergo a testosterone examination but were subject to a separate and recognized test, whereby the specifics remain confidential.“

Statement IBA am 31. Juli 2024

Laut IBA wurden also keine Testosteron-Tests gemacht, sondern anerkannte medizinische Tests, welche genau, schreibt IBA nicht. Die Deutsche Welle spricht von DNA-Tests. Möglicherweise auch Ultraschall oder andere Untersuchtungen. Dass die Ergebnisse solcher Tests vertraulich bleiben, ist Standard. Schließlich handelt es sich um intime persönliche Daten, die die Öffentlichkeit nichts angehen.

Daher ist es zu kritisieren, dass IBA-Präsident Umar Kremlev 2023 gegenüber der russischen Nachrichtenagentur TASS erklärte, die Boxerinnen hätten XY-Chromosomen.

Weiter schreibt IBA in ihrem Statement:

„The disqualification was based on two tests conducted on both athletes as follows:

  • Test performed during the IBA Women’s World Boxing Championships in Istanbul 2022.
  • Test performed during the IBA Women’s World Boxing Championships in New Delhi 2023.

For clarification

  • Lin Yu-ting did not appeal the IBA’s decision to the Court of Arbitration for Sport (CAS), thus rendering the decision legally binding.
  • Imane Khelif initially appealed the decision to CAS but withdrew the appeal during the process, also making the IBA decision legally binding.“
Statement IBA am 31. Juli 2024

Es wurde also zwei Mal getestet. Und die Ergebnisse der Tests wurden nicht beim Sportgerichtshof CAS angefochten.

Sind die Angaben der IBA glaubwürdig?

Der internationale Boxverband IBA wird vom Olympischen Kommittee IOC wegen Korruptionsvorwürfen nicht mehr anerkannt. Das ist der Grund, warum nicht die IBA-Kriterien für Olympia gelten, sondern das IOC selbst die Regeln für die Teilnahme aufgestellt hat.

Diese Korruptionsvorwürfe und die Tatsache, dass Kremlev ein Russe ist, wird als Argument verwendet, um die Test-Ergebnisse anzuzweifeln. Aus meiner Sicht ein schwaches Argument. Wären sie wirklich willkürlich, warum haben dann weder das algerische Team noch das taiwanesische den CAS angerufen?

Und apropos Korruption. Ist das IOC plötzlich frei von Korruptionsverdacht? Wie verträgt sich das mit dem Umgang des IOC mit den Doping-Vorwürfen gegen das chinesische Schwimmteam? IOC und die internationale Doping-Agentur WADA stehen selbst im Verdacht korrupt zu sein. Gleiches gilt für die Fifa. Sollen wir jetzt also sämtliche Entscheidungen von Sportfunktionären anzweifeln?

Fest steht: Dem IOC lagen die Tests der IBA mit dem Ergebnis XY-Chromosomen bereits 2023 vor. Wenn es die IBA-Tests anzweifelt, hätte es eigene Tests durchführen können und müssen. Das hat das IOC versäumt und stattdessen auf sein Regelwerk verwiesen.

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Welche Regeln hat das IOC?

Bis vor wenigen Jahren gab es Testosteron-Grenzwerte auf weniger als zehn Nanomol pro Liter über zwölf Monate, um bei den Frauen teilnehmen zu dürfen. Diese Regel hat das IOC 2021 gekippt. Ziel war es, trans- und intersexuellen Sportler*innen die Teilnahme zu erleichtern.

Gleichzeitig trug das IOC den Sportverbänden auf, eigene Regeln zu definieren. So hat der Weltschwimmverband World Aquatics festgelegt, dass jemand, der eine männliche Pubertät nach Tanner 2 erlebt hat, vom Frauenwettkampf ausgeschlossen ist. Hintergrund ist: Selbst wenn Transfrauen ihre Testosteronwerte entsprechend senken, bleiben Leistungsvorteile durch die breiteren Schultern, das höhere Lungenvolumen. In der Leichtathletik gelten weiterhin Testosteron-Grenzwerte.

Sportverbände wie World Athletics begründen ihre Entscheidung zum Ausschluss von Transathletinnen damit, dass die Fairness und Integrität der Frauenkategorie oberste Priorität haben müsse. Gerade bei Kontaktsportarten gehe es aber auch um die Verletzungsgefahr der Teilnehmenden, heißt es vom Rugby-Weltverband. Es handelt sich also um eine Abwägung und Priorisierung zwischen Fairness und Inklusion, die jeder Sportverband unterschiedlich definiert.

Claudia Bothe, FAZ

Das IOC selbst hat keine solchen Kriterien, sondern lässt Sportler*innen nach Eintrag im Pass zu. Ist das fair? Nein. Finden die Forscher*innen im Team von Tommy R. Lundberg.

Warum ist der Frauensport so ein Thema?

Lundberg et al werfen dem IOC vor, wissenschaftliche Evidenzen zu ignorieren. Im März 2024 schreiben sie im Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports:

Although we appreciate the IOC’s recognition of the role of sports science and medicine in policy development, we disagree with the assertion that the IOC framework is consistent with existing scientific and medical evidence and question its recommendations for implementation. Testosterone exposure during male development results in physical differences between male and female bodies; this process underpins male athletic advantage in muscle mass, strength and power, and endurance and aerobic capacity. The IOC’s “no presumption of advantage” principle disregards this reality.

Lundberg et al, Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports

Übersetzt mit deepl:

Obwohl wir es begrüßen, dass das IOC die Rolle der Sportwissenschaft und -medizin bei der Entwicklung von Strategien anerkennt, stimmen wir nicht mit der Behauptung überein, dass der IOC-Rahmen mit den vorhandenen wissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnissen übereinstimmt, und stellen die Empfehlungen zur Umsetzung in Frage. Die Testosteronexposition während der männlichen Entwicklung führt zu physischen Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Körpern; dieser Prozess untermauert den sportlichen Vorteil der Männer in Bezug auf Muskelmasse, Kraft und Leistung sowie Ausdauer und aerobe Kapazität. Das IOC-Prinzip „keine Vermutung eines Vorteils“ lässt diese Realität außer Acht.

Deepl-Übersetzung von Lundberg et al, Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports

In der FAZ erschien jüngst ein Artikel, der neuere Forschungsergebnisse zu Leistungsunterschieden von Männern und Frauen zeigt, aber auch untersucht, wie sich die Leistungspotenziale ändern, wenn Personen medizinisch transitionieren. Solche Forschungen sind wichtig und können helfen, künftig Kriterien zu finden, die einen Ausgleich schaffen zwischen den berechtigten Interessen von Trans- und Inter-Athlet*innen auf der einen Seite und biologischen Frauen auf der anderen.

Über kurz oder lang würden neue, dritte Kategorien helfen. Hier braucht es aber auch gesellschaftliche Akzeptanz. So denkt Dr. Stéphane Bermon, Leiter der Gesundheits- und Wissenschaftsabteilung des internationalen Leichtathletikverbandes IAAF bereits 2018 über eigene Kategorien für Inter-Athlet*innen nach. Er sagt aber auch, dass sich dafür die öffentliche Meinung ändern muss:

My feeling is also the public is not ready for this. We don’t want to stigmatise athletes. We also have to take into account religious and cultural sensitivities. So basically I am in favour but there needs [to be] some changes in public opinion.

Dr. Stéphane Bermon, in Guardian-Artikel

Übersetzt mit deepl:

Ich habe auch das Gefühl, dass die Öffentlichkeit dafür noch nicht bereit ist. Wir wollen die Sportler nicht stigmatisieren. Wir müssen auch auf religiöse und kulturelle Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen. Grundsätzlich bin ich also dafür, aber die öffentliche Meinung muss sich noch ändern.

Deepl-Übersetzung von Dr. Stéphane Bermon, in Guardian-Artikel

Es bleibt also ein schwieriges Terrain. Einerseits sollen Trans- und Interpersonen vor Diskrimnierung geschützt werden. Andererseits darf das nicht dazu führen, dass biologische Frauen diskrimiert werden.

Wichtig zu wissen: XY-Chromosomen alleine sagen noch nicht, ob jemand sportliche Vorteile dadurch bekommt. Dazu kommen muss die Wirkung des Testosterons im Körper. CAIS-Personen zum Beispiel können nicht vermännlichen. Die wären im Frauensport auch mit XY-Chromosomen richtig.

Wie viele Interpersonen gibt es?

Die Schätzungen, wie viele Menschen intergeschlechtlich geboren werden reichen von 0,0018 bis 4 Prozent der Weltbevölkerung. Das liegt sowohl daran, dass es keine einheitliche wissenschaftlliche Definition gibt, was unter intergeschlechtlich fällt, sowie daran, dass gar nicht alle Varianten der Geschlechtsentwicklung als solche auffallen, es also eine hohe Dunkelziffer gibt. Wer kennt schon seine Chromosomen? Und zu guter letzt ist das Thema auch hochgradig ideologisch und politisch durchsetzt, was ebenfalls Einfluss auf die Schätzungen hat.

Spannender ist die Frage, wie viele intergeschlechtliche Frauen es im Leistungssport gibt. Denn Personen, die bei Geburt zwar weiblich registriert werden, aber wegen DSD-Varianten teilweise vermännlichen und einen erhöhten Testosteronspiegel haben, haben Leistungsvorteile, erreichen also leichter Spitzenleistungen. Nicht ohne Grund ist Testosteron als Doping-Mittel verboten.

Till Randolf Amelung hat einige Artikel ausgegraben über Sportler*innen, bei denen es in der Vergangenheit Zweifel am Geschlecht gab, zum Beispiel: Staffel-Läuferin Ewa Klobukowska aus Polen, die russischen Diskus-Werferinnen Tamara und Irina Press, Hochspringerin Iolanda Balas aus Rumänien sowie die polnisch-us-amerikanische Sprinterin Stella Walsh.

Teilweise wurden sie durch Geschlechtertests disqualifiziert, teils sind sie mit Einführung solcher Tests nicht mehr angetreten. Und bei Walsh wurde nach ihrem Tod festgestellt, dass sie sowohl XX wie auch XY-Chromosomen besaß. Die Natur ist ein wilder Feger und probiert viel aus. Interpersonen haben die gleichen Menschenrechte wie alle anderen auch. Gleiches gilt für Transpersonen. Gleiches gilt für Frauen.

Die Wissenschaft ist heute viel weiter als im 20sten Jahrhundert. Es ist an uns, uns gesellschaftlich so zu entwickeln, dass wir Trans- und Interpersonen offen begegnen. Und dass wir gleichzeitig valide Kriterien für faire Sportwettbewerbe entwickeln.

Aus meiner Sicht trägt das IOC die Hauptverantwortung für das Desaster. Es kam weder seinen Schutzpflichten gegenber den beiden intergeschlechtlichen Boxer*innen noch gegenüber den biologischen Frauen nach. Und ich stimme der Einschätzung von Thilo Neumann zu:

„Die Debatte darüber, ob im olympischen Frauen-Boxturnier zwei biologische Männer antreten, ist entwürdigend, aber alternativlos. Schuld an dem Dilemma trägt das Internationale Olympische Komitee.“

Thilo Neumann, Spiegel.de

Wir müssen reden. Und wenn dieses Desaster für irgendetwas gut sein kann, dann hoffentlich dafür, dass wir jenseits ideologischer Gräben in der Sache auf der Grundlage von naturwissenschaftlichen Fakten und der Ethik menschenrechtlicher Erfordernisse valide Kriterien für Sportwettbewerbe entwickeln.

Anmerkung: Der Artikel wurde am Morgen des 4. August 2024 veröffentlicht und am Morgen des 5. August 2024 noch um einige Aspekte ergänzt, die mir im Laufe des gestrigen Sonntags untergekommen sind.

Quellen für diesen Blogartikel:

Aadi Nair: Boxing-Two boxers who failed gender tests at World Championships cleared for Games, Reuters, 29. Juli 2024: https://www.reuters.com/sports/olympics/boxing-two-boxers-who-failed-gender-tests-world-championships-cleared-games-2024-07-29/

Alan Abrahamson: IBA letter to IOC, June 2023: Boxer’s ‚DNA was that of a male consisting of XY chromosomes‘, wire sports, 3. August 2024: https://www.3wiresports.com/articles/2024/8/3/0d4ucn50bmvbndhhqjohaneccoqueq

Anorak: A history of Olympic gender scandals, flashbai, 29. Mai 2012: https://flashbak.com/a-history-of-olympic-gender-scandals-15401/

Carole Hooven auf Twitter 1: https://x.com/hoovlet/status/1819449064590582073

Carole Hooven auf Twitter 2: https://x.com/hoovlet/status/1819046454922518835

Claudia Bothe: Transpersonen im Sport. Der entscheidende Unterschied, FAZ, 12. Mai 2024: https://www.faz.net/aktuell/sport/mehr-sport/olympia-warum-transathletinnen-nicht-starten-duerfen-19695912.html

IBA: Statement made by the International Boxing Association regarding Athletes Disqualifications in World Boxing Championships 2023, 31. Juli 2024: https://www.iba.sport/news/statement-made-by-the-international-boxing-association-regarding-athletes-disqualifications-in-world-boxing-championships-2023/

IOC: Fairness, Inclusion and Non-Discrimination in Olympic Sport, November 2021, https://olympics.com/ioc/human-rights/fairness-inclusion-nondiscrimination

Jan Dönges: IOC schafft allgemeines Testosteronlimit ab, Spektrum, 17. November 2021: https://www.spektrum.de/news/spitzensport-ioc-schafft-allgemeines-testosteronlimit-ab/1950019

Julian Tilders: Neuer China-DopingverdachtDruck bleibt hoch: Warum das IOC Partei für die WADA ergreift, DLF, 31. Juli 2024: https://www.deutschlandfunk.de/olympia-china-neuer-doping-verdacht-wada-ioc-druck-100.html

Karolos Grohmann: There is no doubt Olympic boxers in gender dispute are women, IOC’s Bach says, Reuters, 3. August 2024: https://www.reuters.com/sports/olympics/no-doubt-boxers-gender-dispute-are-women-iocs-bach-says-2024-08-03/

Sean Ingle: IAAF doctor predicts intersex category in athletics within five to 10 years, Guadian, 26. April 2018: https://www.theguardian.com/sport/2018/apr/26/iaaf-doctor-calls-for-intersex-category-athletics-caster-semenya

Sigi Lieb: Alle(s) Gender. Wie kommt das Geschlecht in den Kopf?, Querverlag 2023

Stefan Nestler: Gender-Streit um algerische Olympia-Boxerin Imane Khelif, Deutsche Welle, 1. August 2024: https://www.dw.com/de/gender-streit-um-algerische-olympia-boxerin-imane-khelif/a-69832319

Thilo Neumann: Schützt endlich den Frauensport! spiegel.de, 4. August 2024: https://www.spiegel.de/sport/imane-khelif-kontroverse-im-olympia-boxen-schuetzt-endlich-den-frauensport-a-7279a7cc-2eda-4213-9a60-760a9819654d

Tommy R. Lundberg et al: The International Olympic Committee framework on fairness, inclusion and nondiscrimination on the basis of gender identity and sex variations does not protect fairness for female athletes, Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports, 21. März 2024: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/sms.14581

T-Online, aj: Nach WM-Ausschluss – Wende bei Olympia: Kontroverse Boxerinnen starten in Paris, aktualisiert am 1. August 2024: https://www.t-online.de/sport/olympia/id_100459400/olympia-2024-wende-bei-kontroversen-boxerinnen-sie-duerfen-in-paris-starten.html

Ulli Kulke: Zwischen Mann und Frau: Die legendäre Diskuswerferin Tamara Press wird 70 – Nie ohne ihren Rasierapparat, Welt, 10. Mai 2007, https://www.welt.de/welt_print/article863101/Nie-ohne-ihren-Rasierapparat.html

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4 Gedanken zu „Intergeschlecht im Frauensport – Was ist fair?“

  1. Man sollte endlich sagen

    das eine Sportlerin durch gedopte Sportlerinnen keine siege erringt, ist ungleich viel größer und normal als gegen eine transportlerin

    eine schwimmerin
    eine im Radsport
    Eine ex gewichtheberin
    eine Schachspielerin
    eine beim dart
    eine Leichtathletin

    Recht wenig, wie ich finde

    Antworten
    • Liebe Alexandra, Doping ist verboten. Und wer erwischt wird, wird disqualifiziert.
      Beim Sport geht es um Fairness. Für Trans- und Interpersonen braucht es Regeln. Es ist nunmal so, dass Testosteron zu unfairen Leistungsvorteilen führt. Beim Boxen kommt zusätzlich die Sicherheit hinzu.
      Schau dich unten in den Links um. Dort gibt es viel weiterführende Info.
      Über kurz oder lang werden wir wohl dritte, offene Kategorien brauchen.

      Antworten
  2. Danke für diesen fundierten, sachlichen und menschlichen Text.
    Einerseits habe ich hier viel eigene Verwirrung entwirren und sortieren können, andererseits finde ich sehr gute Argumentationshilfen gegen die viele Verwirrung, die anderenorts (noch) unterwegs ist.

    Antworten
  3. Danke Frau Lieb, für diesen Artikel, der mir sehr viel beigebracht und in Kontext gesetzt hat. Und besonderen Dank für diese Zeile: „Die Natur ist ein wilder Feger und probiert viel aus.“

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