Im April habe ich das Buch von Alice Schwarzer zum Thema Transgender rezensiert. Heute folgt das Gegenstück, „Die Transgender-Frage“ von der britischen Transfrau Shon Faye, in der deutschen Übersetzung bei Hanserblau erschienen. Aus dem Englischen übersetzt wurde Shon Fayes Buch von Jayrôme C. Robinet und Claudia Voit.
Die Transgender-Frage – ein Aufruf zu mehr Gerechtigkeit?!
Der deutsche Untertitel von Shon Fayes Buch „Die Transgender-Frage“ lautet „Ein Aufruf zu mehr Gerechtigkeit“ (Englisch: The Transgender Issue: An Argument for Justice). Faye schreibt aus der Perspektive einer Transfrau und mit einer antikapitalistischen Grundhaltung.
Im Mittelpunkt stehen daher nicht die bürgerlichen, mittelständischen oder prominenten Transpersonen, die es zweifellos auch in Großbritannien gibt. Sie rückt Personen in den Mittelpunkt, die benachteiligt sind, wegen ihrer Hautfarbe, wegen ihres wirtschaftlichen Hintergrunds, weil sie obdachlos sind oder waren, sich prostituieren (müssen) oder inhaftiert sind oder waren. Sie blickt also nicht auf den Glamour und die Macht, sondern in die grauen, schweren, oft ohnmächtigen Ecken der britischen Gesellschaft. Das ist gut. Denn wer unter Transpersonen immer nur die sieht, die als Influencer*innen, Politker*innen, erfolgreiche Journalist*innen oder anderweitig erfolgreich in der Öffentlichkeit stehen, bekommt ein verzerrtes Bild.
Faye erzählt von Transpersonen, die als Jugendliche drei Jahre auf einen Termin in der Genderklinik warten. Sie stellt uns junge Erwachsene vor, die von zuhause rausgeflogen sind, Menschen, die arbeitslos sind und/oder sich prostituieren (müssen), um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wir kommen als Leser*innen diesen Schicksalen nah.
Sichere genderqueere Räume sind wichtig
Shon Faye kritisiert, dass in der Debatte die individuellen Freiheitsrechte von Mittelschichts-Angehörigen ganz oben auf der Prioritätenliste stehen und die Probleme sozial schwacher Personen ausgeblendet werden.
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„In jeder Minderheit gehören diejenigen, die Forderungen nach Anerkennung und besserer Behandlung voranbringen könne, in der Regel zur Mittelschicht. Sie können diese Forderungen voranbringen, da sie über Zeit, Ressourcen und den Zugang zur Politik verfügen, doch, aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit nehmen sie drängende Probleme wie Armut und Wohnungslosigkeit nicht wahr. Diese Probleme wiederum hindern viele Menschen daran, sich an aktivistischen Bewegungen zu beteiligen. Das dadurch entstandene Ungleichgewicht in der Repräsentation führt dazu, dass persönliche, individuelle Freiheiten über der wirtschaftlichen Emanzipation der gesamten Minderheitengruppe priorisiert werden.“ (S. 72)
Faye lenkt also den Blick weg von Self-ID oder Styling-Fragen, hin zu den Problemen im alltäglichen Kampf um Arbeit, Gesundheit und ein Dach über dem Kopf. Sie klagt nicht nur Politik und Medien an, diese Aspekte zu wenig zu berücksichtigen, sondern auch ihre eigene Community.
Faye schreibt:
„Während mehr Rechte für trans Personen auf dem ‚respektablen‘ Arbeitsmarkt errungen werden, lassen trans Personen aus der Mittelschicht trans Sexarbeiter:innen eher im Stich.“ (S. 192)
Und die männlich geborene/sozialisierte Transfrau Faye lässt weiblich geborene/sozialisierte Frauen im Stich, möchte ich antworten. Dazu später mehr. Bleiben wir bei den marginalisierten Gruppen, denen Faye sich im Schwerpunkt widmet.
Faye beschreibt aus der Sicht einer obdachlosen Transfrau, wie schwer es ist, eine Unterkunft zu finden:
„‘Wir brauchen eine LGBT-Unterkunft. In eine für Männer wollen sie mich nicht schicken, weil ich dort angegriffen werden würde oder andere Sachen passieren könnten. Aber in eine für Frauen schicken sie mich auch nicht, weil ich noch ‚bestückt‘ bin‘, erzählt Anna dem Bristol Cable und beschreibt somit einmal mehr, wie die Geschlechtertrennung von Hilfsangeboten dazu führt, dass viele trans Menschen durch das Raster fallen.“ (S. 74)
Faye spricht hier einen wichtigen Punkt an: Wir leben in einer Welt, die vielfältig nach zwei Geschlechtern getrennt organisiert ist. Und diese Zweiteilung passt nicht. Neben Männern und Frauen gibt es Transfrauen, Transmänner, Intergeschlechtliche, Nicht-Binäre. Menschen, die nicht in die binäre Ordnung passen, fallen leicht durch das Raster. Das gilt für Obdachlosen-Schlafstätten ebenso wie für zahllose andere geschlechtergetrennte Räume. Insbesondere in vulnerablen Situationen möchten sich Menschen aller Körper sicher fühlen.
Wir müssen also unser Denken öffnen, vielfältiger über Geschlecht reflektieren und genderqueere, dritte Räume schaffen. Insbesondere Menschen, die optisch für andere verwirrend aussehen, weil sie teilweise männlich, teilweise weiblich gelesene Merkmale tragen, profitieren von sicheren genderqueeren Räumen. Das betrifft zum Beispiel manche Intergeschlechter und etliche Transmänner, die zum Beispiel in der Gruppendusche oberhalb des Bauchnabels männlich gelesen werden, darunter weiblich. Das heißt aber auch, dass wir nicht einfach ein binäres Modell auf der Grundlage von Körpern durch ein binäres Modell nach Identität austauschen. Körper UND Identitäten sind wichtig, nicht ODER. Egal, wie wir es drehen und wenden, wir müssen Sicherheit in einer Welt schaffen, wie sie ist, nicht, wie wir sie uns erträumen.
Ein Kapitel widmet Faye dem Staat, der Polizei, den Gefängnissen. Auch Gefängnisse sind nach Geschlechtern getrennt. Und wie in Deutschland gibt es in Großbritannien viel mehr Männer- als Frauengefängnisse. Dabei droht genderqueeren Personen in Männergefängnissen besondere Gefahr durch toxische Männlichkeit, nicht nur Transfrauen, auch schwulen Männern oder Männern, die feminin gelesen werden. In Frauengefängnissen dagegen sind die Entfernungen zum sozialen Umfeld in Freiheit viel größer und Besuche damit seltener möglich. Zumindest für deutsche Gefängnisse gilt außerdem, dass das Freizeit- und Weiterbildungsangebot in Frauengefängnissen kleiner ist als im Männerknast.
Fayes Lösung, mittelfristig Gefängnisse ganz abzuschaffen, halte ich nicht für zielführend. Wir können jedoch festhalten. Sowohl in britischen wie deutschen Gefängnissen werden Cis-Frauen (egal ob hetero, homo oder bi), schwule oder feminine Männer und Transpersonen diskriminiert. Wenn wir uns also mit Transgender-Fragen befassen, sollten wir einen intersektionalen Blick auf Gefängnisse werfen und nach fairen Lösungen für alle suchen, nicht nur für Transfrauen.
Großbritannien und Deutschland sind schwer vergleichbar
Faye berichtet über Alltagsprobleme. Das bedeutet, sie steigt in ihrem Buch tief in die Verästelungen gesellschaftlicher Organisation und ihrer Strukturen, die auf Menschen mit bestimmten Merkmalen diskriminierend wirken. Sie stellt uns Schwarze, Prostituierte, Wohnungslose vor und zeigt uns die Probleme von Transmenschen, die eben nicht über ein üppiges Portemonnaie und die dazugehörigen sozialen Netzwerke verfügen. Dieses Vorgehen macht das Buch gleichzeitig kaum übertragbar auf andere Länder. Zu spezifisch sind die Regelungen in den jeweiligen Nationalstaaten.
Besonders deutlich wird das am Beispiel des Gesundheitswesens. Faye befasst sich ausführlich damit, geht auf Prozesse und Abläufe ein, die sie als absurd beschreibt und kritisiert. Dazu zählen zum Beispiel die langen Wartezeiten. Faye beklagt zu Recht, dass manche Transjugendliche so lange auf eine Behandlung warten müssen, dass Hormonblocker gar keinen Sinn mehr ergeben, weil die Pubertät sich bereits ihrem Abschluss nähert. Sie lässt eine Transperson zu Wort kommen, die drei Jahre gewartet hat und als es nach drei Jahren endlich soweit war, war sie volljährig und musste in die Klinik für Erwachsene.
Diese Situation ist mit Deutschland nicht vergleichbar, weil die Gesundheitsversorgung hierzulande dezentral und sehr anders organisiert ist. Die langen Wartezeiten in Großbritannien treffen nicht nur Transpersonen, sondern alle möglichen Diagnosen, wie Krebs, Herz- oder Skelett-Erkrankungen. Corona hat dieses System noch mehr an den Rand des Kollapses gebracht.
Übrigens gab es in Bezug auf die Versorgung von minderjährigen Transpersonen nach Erscheinen des Buches in Deutschland eine wichtige Veränderung für England: Der Gender Identity Development Service (GIDS) an der Tavistock-Klinik in London, das einzige Zentrum für Transgender-Jugendliche in England/Wales, wird zum Frühling 2023 geschlossen. Zuvor hatte das GIDS in einer Untersuchung unter Leitung der Kinderärztin Dr. Hilary Cass eine verheerende Bewertung in Bezug auf die Qualität der Behandlungen bekommen. Die Schließung des GIDS bedeutet aber nicht, dass Transjugendliche nicht mehr behandelt werden, sondern dass die Versorgung transidenter Kinder und Jugendlicher in Großbritannien dezentralisiert und auf mehrere Kliniken verteilt, zudem stärker an die Pädiatrie angebunden werden soll. Es soll also mehr und besser diagnostiziert werden, um die medizinische Evidenz und Qualität zu verbessern.
Das Narrativ vom Gatekeeping
Bei allen Unterschieden in der Gesundheitsversorgung sind manche Narrative in Deutschland und Großbritannien auch gleich. Dazu zählt die Erzählung von der Diagnostik als Gatekeeping. Leider verfällt auch Faye diesem Narrativ, das ich für hochgefährlich halte. Denn letztlich gefährdet es auch Transpersonen. Es lädt dazu ein, die eigene Transition nicht ernsthaft psychotherapeutisch zu begleiten, was für die Psyche echt gefährlich werden kann, weil sich so krass viel ändert. Und vor allen Dingen, werden ohne Diagnostik die Ursachen für Leiden nicht geklärt und es kommt zu Fehlbehandlungen.
Faye kritisiert zu Recht, dass Ärzt*innen und Psycholog*innen ebenfalls Geschlechter-Stereotypen unterliegen, das Wohlergehen von Transpersonen aber von ihren Entscheidungen und Diagnosen abhängt. Das ist ein Argument für mehr Aufklärung und Weiterbildung sowie für klare, evidenzbasierte Leitlinien für das pflegerische und medizinische Personal. Das ist kein Argument gegen die Diagnostik. So setzt es Faye aber ein.
Transgender-Personen benötigen oft nicht nur Unterstützung für ihre Transition. Viele haben weitere Probleme und leiden unter Depressionen, Ess-Störungen, Angst-Störungen, verletzen sich selbst, sind suizidal oder es handelt sich um neuro-diverse Menschen (Autismus, ADHS). Eine gute Diagnostik und psychotherapeutische Behandlung helfen, diese Menschen zu stabilisieren und herauszufinden, welche Maßnahmen der Person am besten helfen. Der allzu affirmative Ansatz vom GIDS in Tavistock war ja gerade das Problem, das wesentlich zum vernichtenden Qualitätsurteil durch Cass beigetragen hat.
Transgender und „die Medien“
Immer wieder geißelt Faye die Berichterstattung in den britischen Medien, die aus ihrer Sicht sehr voyeuristisch, lüstern, skandalisierend, sexualisierend und häufig auch transfeindlich über Transmenschen berichteten. Sie fordert, Transpersonen möchten sich die Kontrolle über ihre Narrative zurückerobern, allerdings ist mir nicht ganz klar, was genau sie damit meint. Denn eine demokratische Medienlandschaft bildet nun mal unterschiedliche Ansichten ab. Und das bedeutet, nicht alle Publikationen richten sich nach dem Narrativ oder der Sichtweise einer bestimmten Gruppe. Zudem innerhalb einer Gruppe in der Regel auch Meinungspluralismus vorherrscht.
Richtig ist natürlich, dass der Boulevard in Großbritannien traditionell noch ätzender und schmutziger ist als in Deutschland. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob sich die einstigen Unterschiede zwischen BILD und Sun aus den 90er Jahren durch Socialmedia nicht längst nivelliert haben. Da ich die britische Medienlandschaft und Berichterstattung weniger gut kenne als die deutsche, kann ich es schlicht nicht beurteilen. Ich kann nur sagen: Für die deutsche Berichterstattung kann ich den Eindruck, den Faye beschreibt, nicht bestätigen.
Nach meiner Wahrnehmung ist es sowohl in der deutschen, wie in der englischsprachigen Berichterstattung schwer, Beiträge zu finden, die nicht in irgendeiner Weise ideologisch übermalt und dadurch verzerrt werden. Transpersonen und ihre politischen Forderungen werden entweder kritiklos bejubelt oder heftig kritisiert. In beiden Fällen werden der eigenen Position nützliche Infos übertrieben dargestellt, der eigenen Position schädliche kleingeredet oder weggelassen. Das ist sehr schade, weil es die sachliche Debatte und ein gemeinsames Vorankommen behindert.
Eine deutliche Verzerrung gibt es bezüglich dem Verhältnis von Transfrauen zu Transmännern zu Intergeschlechtlichen. Obwohl Transmänner bei den Neu-Diagnosen erheblich in der Mehrheit sind, sind Transfrauen deutlich präsenter in der Debatte. Intergeschlechtliche werden fast überhaupt nicht wahgenommen, sondern nur benutzt, wahlweise als Rechtfertigung für die eigene Position oder als vernachlässigenswert kleingerechnet.
Das Debattenklima ist – insbesondere auf Socialmedia – extrem vergiftet. Sowohl transkritische Feminist*innen wie auch Transpersonen werden verbal attackiert, bedroht, gemobbt, ihre wirtschaftlichen Existenzen durch üble Nachrede und Verleumndung gefährdet. Es ist unerträglich. Dabei reflektieren die Streithälse selten ihre eigene Verantwortung, sondern geben die Schuld weiter, gerne an „die Medien“.
In Deutschland gibt es zwei entgegengesetzte Petitionen: Die eine wirft „den Medien“ vor, zu transfreundlich zu berichten. Die andere wirft „den Medien“ vor, zu transfeindlich zu berichten. Vielleicht sind also gar nicht „die Medien“ schuld. Vielleicht leben wir einfach in einer Demokratie, in der im Rahmen der verfassungsmäßig geschützten Meinungsfreiheit Meinungsvielfalt zu tolerieren ist. Die Meinungsfreiheit endet dort, wo sie laut Strafgesetzbuch strafbar ist. Vielleicht sollten wir mehr Energie darauf verwenden, Hasskriminalität und Mobbing, egal aus welcher Ecke es kommt, stark in die Schranken zu weisen und besser zu ahnden.
Die Transgender-Frage und die (fehlende) feministische Perspektive
Ausführlich widmet sich Faye in einem Kapitel der Sexarbeit. Sie geht auf die Diskussion um Prostitution und Feminismus ein und diskutiert unterschiedliche Modelle. Ich möchte nicht darüber urteilen, ob ich Fayes Argumentation zu Prostitutionsregelungen folgen mag oder nicht, dazu bin ich zu wenig im Thema. Sie bringt viele Beispiele und gute Argumente.
Aber sie triggert bei mir etwas Anderes: Im Grunde schreibt Faye nicht über Sexarbeiter*innen, sondern über Transfrauen in der Sexarbeit und den Gefahren für und dem Leid von Transfrauen. Die Zig-Tausenden Cis-Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden oder keinen anderen Ausweg sehen, als sich zu prostituieren, tauchen bestenfalls am Rande auf. Faye lässt geburtsgeschlechtliche Frauen im Stich.
Die Diskriminierung von Transfrauen wird gefühlt auf jeder Seite des Buches in den Vordergrund gerückt. An vielen Stellen erwähnt Faye Zahlen, die die Diskriminierung von Transfrauen belegen sollen. Transmänner kommen deutlich seltener vor, Interpersonen fast gar nicht. Die Diskriminierung von Cis-Frauen wird nur erwähnt, wenn es nicht anders geht.
Beim Lesen stolperte ich immer wieder über solche Beispiele:
„Laut einer Studie von Stonewall hat im vergangenen Jahr eine von fünf Transpersonen (19 Prozent) Gewalt durch eine:n Partner:in erlebt.“ (S. 78)
„Bei Morden an trans Menschen (insbesondere an trans Frauen) sind weltweit cis männliche Lebenspartner oder Ex-Partner die häufigsten Täter.“ (S. 80)
Mir erschließt sich nicht, wieso hier nur von Transpersonen (insbesondere Transfrauen) die Rede ist und Cis-Frauen unerwähnt bleiben. Sollte Faye der Meinung sein, Transfrauen seien stärker betroffen als Cis-Frauen, hätte sie zumindest vergleichende Zahlen liefern müssen. Macht sie nicht. Es hinterlässt ein erhebliches Störgefühl, wenn über häusliche Gewalt, Vergewaltigung und Mord gesprochen wird und dabei Transfrauen hervorgehoben und Cis-Frauen ignoriert werden. Auch in Großbritannien gibt es alle drei Tage einen Femizid und Großbritannien hat offenbar ein großes Problem mit toxischer Männlichkeit und Gewalt gegen Frauen. Auch hier sind Schwarze, PoC, wirtschaftlich schwache und ausgebeutete Frauen (und ihre Kinder) besonders hart betroffen.
Neben vielen wichtigen, berührenden, bedrückenden Geschichten, die Faye recherchiert hat und erzählt, entsteht beim Lesen immer wieder dieses Störgefühl. Es fühlt sich an, wie die ganz normale cis-männliche Ignoranz gegenüber Frauen, mit dem Unterschied, dass sie von einer Transfrau kommt.
Dass es auch anders geht, zeigte JJ Bola 2020 mit „Sei kein Mann“. Bola ist ebenfalls Brite und das Buch ebenfalls bei Hanserblau erschienen. Bola schreibt darüber, wie das Patriarchat Jungs und Männer diskriminiert und ihnen schadet. Bola gelingt es, Mitgefühl für die patriarchale Unterdrückung von Männern zu erzeugen, ohne die Unterdrückung von Frauen kleinzureden. Faye schafft das leider nicht.
Betrachten wir ein weiteres Beispiel. In Bezug auf alternde Transpersonen schreibt Faye:
„Dazu gehört der Schutz der Menschenrechte älterer trans Menschen in Pflegeheimen, wo sie möglicherweise stärker diskriminiert werden als zu der Zeit, als sie noch eigenständig gelebt haben.“ Und weiter „Ältere trans Menschen, die sich erst spät outen (…), scheuen sich womöglich davor, bei der Intim- und Körperpflege Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn ihre Genitalien oder weitere Geschlechtermerkmale nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmen.“ (s. 84f)
Ja, unbedingt, eine kultur- und diversitätssensible Altenpflege ist wichtig. Und es braucht hier viel mehr Aufklärung und Ausbildung in der Pflege und in der Medizin. Diese Achtsamkeit, der Respekt und das würdevolle Behandeln brauchen nicht nur Transpersonen, sondern alle Alten. Eine Seniorin, die sich wünscht, nur von einer Frau gewaschen zu werden, meint damit in der Regel das körperliche Geschlecht. Und sie begibt sich geradewegs in die Gefahr, von Transaktivist*innen als transphob beschimpft zu werden. Nein, es ist die Selbstbestimmung über ihre intimsten Körperteile, die diese Frau in Anspruch nimmt. Das ist ihr Recht und ihre Menschenwürde.
Hier müssen wir uns ehrlich machen und zeigen: Menschenrechte sind Individualrechte. Deshalb hat jedes Individuum ein Recht darauf, in Würde behandelt zu werden, auch eine alte Cis-Frau. Diese Perspektive fehlt bei Faye. Sie anerkennt die Angst und die Schamgefühle von Transpersonen und ignoriert sie bei Cis-Menschen.
Und Faye ignoriert noch etwas Anderes. Klar erleben Transfrauen Sexismus, Misogynie, Gewalt und all den Mist, den toxische Männlichkeit erzeugt. Das erleben sie ab ihrer Transition. Und sie konnten sich im Vorfeld damit auseinandersetzen, ob und wann sie sich diesem sozialen Abstieg aussetzen wollen. Transfrauen können erst männliche Privilegien genießen, sie können Karriere machen und alles erreichen, was ihnen leichter zufliegt, so lange sie als Mann gelesen werden. Und wenn die Schäfchen im Trockenen sind, können sie sich mit 50 oder 60 als Frau outen. Cis-Frauen können das nicht. Sie erleben Misogynie und Sexismus ab Geburt, nicht ab Transition.
Geschlechter-Diskriminierung aufgrund von Sex beginnt sogar vor der Geburt: XX-Föten werden häufiger abgetrieben als XY-Föten. Und ab dem ersten Atemzug läuft ein unterschiedliches Sozialisationsprogramm über die Gehirne der Babys, je nachdem, ob sie mit Vulva oder Penis geboren werden. Bis ein Kind sich als Individuum wahrnehmen und darüber sprechen kann, sind mehrere Jahre genderspezifische Sozialisation über sein Hirn gelaufen und haben es verändert. Dieser Teil diskriminiert Vulven und nicht Identitäten.
Natürlich werden auch geburtsgeschlechtliche Jungs mit Genderstereotypen bombardiert und leiden darunter. Dennoch stehen sie im patriarchalen System hierarchisch über den Frauen und haben mehr Entwicklungsmöglichkeiten. Mütter werden im Patriarchat in ganz besonderer Weise diskriminiert, weil ihnen ungefragt die Care-, Haus- und Sorgearbeiten zugewiesen werden. Ansprüche auf Selbstverwirklichung trotz Kindern werden bei Müttern schnell mit sozialen Sanktionen geahndet, bei Vätern nicht. Diese massive Diskriminierung der Hälfte der Bevölkerung wertzuschätzen, vermisse ich bei Faye.
Das Versprechen und seine Grenzen
Relativ am Anfang ihres Buches schreibt Shon Faye:
„Ich möchte die Debatten über trans Menschen, wie sie von denen geführt werden, die einen sogenannten Kulturkrieg anheizen wollen, hinter uns lasse und eine neue, ausgewogene Diskussion über trans Menschen beginnen.“ (S. 35)
Dieses Zitat ließ mich hoffen: Endlich mal nicht dieses Gekeife und diese verzerrten Perspektiven, egal ob von kritsch-feministischer oder von trans-aktivistischer Seite. Im Grunde wollen wir doch das Gleiche: das Patriachat abschaffen. Endlich Augenhöhe, Sachlichkeit, echte Debatte. Aber gelingt ihr das? Leider nein.
Die Privilegien und Diskriminierungen von Race und Class sind Faye sehr bewusst. Sie thematisiert sie mit viel Empathie. Sie betont immer wieder, dass sie eine privilegierte Transfrau ist, weil sie weiß ist, aus einem mittelständischen Elternhaus stammt und sie von ihren Eltern und im privaten Umfeld viel Unterstützung für ihre Transition erfahren hat. Leider fehlt dieses Bewusstsein für das dritte große Thema des intersektionalen Ansatzes: die Privilegierung/Diskriminierung aufgrund von Sex und Gender.
Faye hat sicher selbst genug Diskriminierung und Anfeindungen erfahren und ich gestehe ihr zu, an der einen oder anderen Stelle wütend, enttäuscht und verletzt zu sein und entsprechend zu reagieren. Verständlich. Als Journalistin erwarte ich andererseits auch die Fähigkeit, die eigene Betroffenheit wahrzunehmen, zu reflektieren und sich von ihr zu distanzieren. Die Empathie, die Faye Schwarzen Personen und solchen aus der Arbeiterklasse entgegenbringt, die wünsche ich mir auch für Cis-Frauen.
Faye beklagt sich:
„Die erbitterte Debatte über trans Frauen erschwert die politische Solidarität und Bündnisse zwischen LGBTIQ*-Menschen und heterosexuellen cis Frauen“ (s. 83)
Dem stimme ich absolut zu. Nur wird dieser Konflikt eben auch von bestimmten Transleuten und ihren Allys befeuert. In Deutschland werden lesbische Cis-Frauen, die sagen, sie möchten keine Penis-Frauen daten, als transhob beschimpft. Das ist ein sexistischer Übergriff. Das passiert nicht nur auf queeren Datingportalen. Teilweise wird auch auf Schulhöfen diskutiert, ob eine Lesbe eine Transfrau ablehnen darf. Natürlich darf sie das! Es gibt keine Datingpflicht. Mit niemandem.
Ich glaube Shon Faye, dass sie den Blick weg von voyeuristischen Verzerrungen auf die realen Probleme von Transmenschen lenken will. Sie macht das ja auch grundsätzlich gut, scheitert aber beim Thema Frauen. Vielleicht fällt ihr es als Transfrau schwer, sich einzugestehen, dass eine Transfrau und eine (Cis-)Frau eben doch nicht gleich sind, dass nicht alleine die Identität zählt, sondern eben auch der Körper und die damit verbundenen Sozialisationserfahrungen. Schwarzsein und Frausein sind die zwei zentralen Themen des intersektionalen Ansatzes und damit ist gemeint, dass ab Geburt ein Diskriminierungsprogramm läuft.
Statt feministische Kritik ernst zu nehmen, zu reflektieren und gemeinsam mit Trans-Interessen nach Lösungen und Kompromissen zu suchen, die das Leben für Transfrauen und Frauen (hetero, homo, bi, pan) und ebenso für schwule oder feminine Männer sicherer macht, tappt Faye in die gleiche Falle, die ich auch aus Deutschland kenne und kritisiert Kritik an trans-aktivistischen Positionen viel zu leichtfertig als transphob. Damit bricht Faye ihr Versprechen vom Anfang des Buches. Linke Feminist*innen werden mit Radikal-Religiösen, Konservativen und Rechten in einen Topf geworfen. Das ist nicht nur kein guter Stil. Das ist anti-feministisch und wirkt am Ende transfeindlich, weil es genau die Gräben vertieft, von denen Faye beteuert, dass sie sie schließen will.
Zwei prominente Stimmen, die von britischen Trans-Aktivist*innen regelrecht gejagt wurden und werden, sind die Schriftstellerin J. K. Rowling, die selbst häusliche Gewalt und Missbrauch erlebt hat, und und die Philosophin Kathleen Stock, die nach trans-aktivistischen Protesten ihren Lehrstuhl aufgab. Nun kenne ich die Details in den beiden Fällen nicht. Doch ist es mir zu banal, diese Frauen mit Rechten in einen Topf zu werfen. Was ich über die beiden gelesen habe, geht es ihnen nicht darum, Transgender abzulehnen, sie fordern lediglich eine Differenzierung zwischen Sex und Gender oder zwischen Körper und Identität. Und dafür gibt es gute Gründe, auch zum Schutz von Transpersonen.
Das Label transphob oder TERF wird verwendet, um Menschen als nicht diskursfähig zu erklären und sie auszuschließen, sie also mundtot zu machen. Das schadet der Demokratie. Und dagegen sollten wir uns alle gemeinsam auflehnen. Denn die Demokratie ist die einzige Staatsform, die wirkungsvoll Minderheitenrechte schützt.
Im Buchdeckel heißt es:
„Die Forderungen nach wahrer Befreiung von trans Personen überschneiden sich mit denen von Arbeiter:innen, Linken, Feminist:innen, Antirassist:innen und qeeeren Menschen im Allgemeinen.“
Dem stimme ich zu, mit dem zweiten Teil habe ich ein Problem:
„Es sind radikale Forderungen, da sie die Fundamente unserer Gesellschaft infrage stellen – wie diese Gesellschaft gerade ist, aber auch, wie sie ein könnte. Daher versetzt die Existenz von trans Menschen diejenigen in Panik, die entweder den Status Quo aufrechterhalten wollen oder Angst davor haben, was anstelle dieses Status quo treten könnte.“
In diesem zweiten Teil steckt ein Narrativ, das auch hierzulande häufig benutzt wird, um jede Debatte im Keim zu ersticken. Verkürzt gesagt: „Du bist ja bloß nicht meiner Meinung, weil du Angst hast.“
Sicherlich gibt es Menschen, die Angst haben. Aber Angst vor Veränderung, oder wie es im Buchdeckel steht, gar Panik, ist nicht der einzige Grund, warum Menschen transaktivistische Positionen kritisieren. Faye schreibt aus einer anti-kapitalistischen Perspektive. Und natürlich ist Kapitalismus-Kritik legitim. Genauso legitim ist es, andere Positionen zu vertreten. Deshalb hat eine Person weder Panik, noch ist sie automatisch transphob oder gar rechtsradikal.
Buch-Übersetzung mit eigenen Ergänzungen
Wie erwähnt, fokussiert das Werk stark auf die Situation in Großbritannien. Eingestreut finden sich in dem Buch immer wieder Verweise auf Deutschland und dortigen Zahlen. Was dabei leider nicht klar wird: Was war bereits in der englischen Originalversion und was wurde für die Übertragung ins Deutsche geändert? Wer hat daran mitgearbeitet und woran erkenne ich das als Leser*in?
Das gilt auch für das Vorwort: Es steht nicht dabei, von wem es stammt. Dass es von Faye selbst zu sein scheint, entnehme ich der dem Buch beigefügten Pressemeldung. Aber das sehen die Leser*innen nicht. – Falls es von dem Buch ein Paperback geben soll oder eine Neuauflage, sollte hier unbedingt Transparenz hergestellt werden.
Grundsätzlich finde ich es eine gute Idee, dieses stark auf die britische Situation fokussierte Werk durch eigene Recherchen und Ergänzungen für deutsche Verhältnisse zugänglicher zu machen. Allerdings geschieht dies nicht durchgängig und konsequent. So fehlen die Einordnungen, was am deutschen Gesundheitssystem oder der deutschen Gefängnisorganisation grundsätzlich anders ist, vielleicht auch, wie das deutsche Mediensystem anders funktioniert als das britische. Das alles hätte geholfen, Fayes Erzählung besser im deutschen Kontext zu interpretieren. Das wäre aber nur ein Nice-to-have, denn eine solche Bearbeitung macht viel Arbeit und wäre vielleicht zu viel des Guten.
Wenn ich mir was wünschen dürfte: Debatte auf demokratischem Niveau
Das geht jetzt deutlich über eine Rezension hinaus. Weil aber Bücher zu gesellschaftspolitischen Themen letztlich Diskurs-Beiträge sind, möchte ich hier grundsätzlich etwas zur Debatte um Transgender sagen.
Wir müssen reden. Wir müssen debattieren. Wir müssen streiten. Für eine bessere Trans- und Intergesundheit, für mehr Transrechte, für mehr Cis-Frauenrechte, für mehr Vielfalt. Wir wollen doch das gleiche Ziel: das Patriarchat überwinden, eine freie Entwicklung der Persönlichkeit für alle Gender ermöglichen und Vielfalt gestalten.
Vor einigen Monaten habe ich das Buch „Transsexualiätt“ von Alice Schwarzer rezensiert. Wie in dem vorliegenden Werk von Shon Faye fand ich darin gut Aspekte, interessante Geschichten auf der einen Seite. Und ideologisch geprägte Verschiebungen auf der anderen. Beiden Frauen unterstelle ich, dass sie den feministischen Kampf für mehr Geschlechtergerechtigkeit, die Abschaffung des Patriarchats und den Abbau von Gender-Stereotypen wollen. Denn auf diese Weise haben alle mehr Freiheit, sich in ihrer Persönlichkeit zu entwickeln. Ich wünsche mir, dass Trans-Aktivist*innen und transkritische Feminist*innen ihre Dogmen reflektieren, das dogmatische Denken überwinden und nach gemeinsamen Lösungen suchen.
Stell dir eine Podiumsdiskussion mit folgendem Setting vor: Auf dem Podium sitzen zum Beispiel Alice Schwarzer und Shon Faye und vielleicht andere Betroffene (cis und trans). Jedes Mal, wenn eine Person die Begriffe „TERF“ oder „transphob“ sagt oder wenn sie eine Person misgendert (absichtlich mit dem falschen Geschlecht anspricht), muss sie 10 Euro ins Phrasenschwein packen. Die neutrale Moderation dieser Veranstaltung hat im Hintergrund diverse Fachleute, die als Joker schnell mal einen Faktencheck machen können und so helfen, die unterschiedlichen Narrative mit den Fakten abzugleichen und die Debatte versachlichen.
Das Team bekommt dann folgende Aufgabe: Die Debatte dauert so lange, wie sie dauert. Ziel ist es, die eigenen Narrative und Dogmen zu prüfen und zu reflektieren, um eine gemeinsame Lösung zu finden, die für Transfrauen, Transmänner, Lesben, Schwule, Intergeschlechtliche und heterosexuelle Frauen und Männer, für Junge und Alte gleichermaßen funktioniert. Erst dann dürfen sie zum Buffet und auf ihren Erfolg anstoßen.
Coverfoto: hanserblau, Beitragsbild/Titel: Sigi Lieb