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Selbstbestimmungsgesetz: Worum geht es und was erwartet uns?

Seit dem 1. August 2024 können Menschen beim Standesamt eine Änderung des Geschlechtseintrags anmelden. Ab dem 1. November 2024 können sie sich dann persönlich erklären und der Geschlechtseintrag wird wunschgemäß geändert. Sofern die Person einen deutschen Pass oder einen Aufenthaltstitel hat, volljährig und mündig ist, gibt es keine weiteren Voraussetzungen. In diesem Blogbeitrag erkläre ich, warum es dieses Gesetz gibt und mit welchen Folgen wir rechnen dürfen.

Was wird im Selbstbestimmungsgesetz geregelt?

Das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) regelt, unter welchen Voraussetzungen Menschen in Deutschland ihren Geschlechtseintrag in den amtlichen Dokumenten ändern können. Es löst ab dem 1. November 2024 die beiden bisherigen Verfahren ab.

Bisher regelte das Verfahren über das Transsexuellengesetz (TSG) die Änderung des Geschlechtseintrags für Transpersonen. Intergeschlechtliche Menschen konnten ab 2019 über das Personenstandsrecht Paragraf 45b (PStG § 45b) gehen.

Bereits seit dem 1. August nehmen die Standesämter Anmeldungen für eine Änderung des Geschlechtseintrags entgegen. Drei bis sechs Monate später muss dann persönlich eine Erklärung vor dem Standesamt abgegeben werden. Die Kosten sind meist mit 45 Euro angegeben.

Wenn die Person volljährig und mündig ist sowie einen dauerhaften Aufenthaltstitel in Deutschland hat, muss sie keine weiteren Voraussetzungen erfüllen. Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren benötigen das Einverständnis der Sorgeberechtigten (Eltern oder Vormund). Wenn diese gegen eine Änderung des Geschlechtseintrags sind, kann das Familiengericht entscheiden. Bei Minderjährigen bis 14 Jahre können die Sorgeberechtigten eine Änderungserklärung beim Standesamt abgeben

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Zusätzlich zu den Einträgen „männlich“ und „weiblich“ gibt es den Geschlechtseintrag „divers“ sowie die Möglichkeit, den Eintrag ganz zu streichen.

Für wen ist das Selbstbestimmungsgesetz gedacht?

Das SBGG richtet sich an transgeschlechtliche und intergeschlechtliche Menschen, die ihren Geschlechtseintrag ändern wollen. Das ist eine verschwindend geringe Minderheit in der Bevölkerung. Und für sie ist das vereinfachte Verfahren über das SBGG gedacht.

Wie viele Menschen das betrifft, lässt sich nur schätzen. Intergeschlechtlichkeit als eine Untergruppe von Varianten der Geschlechtsentwicklung (DSD, Differences of Sexual Development) ist wissenschaftlich nicht eindeutig definiert. Die Schätzungen für Interpersonen reichen von 0,018 bis 3,7 Prozent der Weltbevölkerung.

Der Begriff „trans“ ist heute sehr unklar. Im klassischen Sinne einer Diagnostik nach ICD-10 64.0 meint Transsexualismus Personen, die sich dem Gegengeschlecht zugehörig fühlen, ihre geschlechtsprägenden Körpermerkmale dauerhaft ablehnen und ein starkes Bedürfnis haben, in ihrem phänotypischen Erscheinungsbild in ihrem Identitätsgeschlecht wahrgenommen zu werden. Heute wird der Begriff „trans“ oder „transgender“ jedoch sehr viel weiter gefasst. Nach den Thesen der Queer“theorie“ sind alle Menschen „queer“ oder „trans“, sie sich selbst so identifizieren. Eine überprüfbare Definition jenseits der Selbstaussage gibt es nicht mehr.

Folgender Blogbeitrag zu Geschlecht und Gender hilft bei der Ordnung im Begriffsdschungel.

Wie viele Menschen machen von der Änderung des Geschlechtseintrags Gebrauch?

Mitte September präsentierte der Spiegel eine Hochrechnung, wie viele Menschen das neue Selbstbestimmungsgesetz in Anspruch nehmen werden und kam nach nur einem Monat auf hochgerechnet 15.000 Anmeldungen. „Das sind deutlich mehr als in den Vorjahren, in denen deutschlandweit rund 2000 bis 4000 Menschen ihren Geschlechtseintrag geändert haben“, schreiben die Autor*innen des Spiegel. Die Schätzungen der Bundesregierung von 4.000 Änderungen bundesweit im Jahr werden also um ein Vielfaches übertroffen.

Ich habe meinerseits Recherchen angestellt und in einigen Städten nachgefragt. Auffällig dabei ist, dass teilweise die Zahl der Anmeldungen nach SBGG höher ist als alle Geschlechtseintrags-Änderungen der letzten fünf Jahre über beide vorherigen Verfahren zusammen.

Diese Steigerung lässt sich nicht dadurch erklären, dass einige Menschen gewartet haben, bis das SBGG kommt. Klar, diese Menschen gab es auch, aber nicht in dem Ausmaß. Auch das Argument, die Gesellschaft sei offener geworden, erklärt keinen derartigen Anstieg. Eher schon plausibel ist, dass insbesondere junge Menschen, die unter Genderstereotypen leiden, sich von der Änderung des Geschlechtseintrags eine Verbesserung ihrer Situation erhoffen.

Änderung Geschlechtseintrag Tabelle für ausgewählte Städte (Horizontal). Vertikal zunächst die Einwohnerzahl, dann die Änderung von 2019 bis 2023, die Summe aus 2019 bis 2023 und die Zahl der Anmeldungen zur Änderung von 1. August bis Abfragedatum. Hier jeweils die Stadt, die Summe von 2019 bis 2023 sowie die Anmeldungen nach SBGG: Hannover: 167, 229, Köln: 234, 342, Münster: 125, 100, Rostock: 47, 127, Magdeburg 70, 77. Für Nürnberg fehlen ein paar Daten, daher nur die Anmeldung nach SBGG: 130, Erlangen 30/41 Sigi Lieb, gesprächswert

Zu den Altersgruppen habe ich Zahlen aus Köln und Erlangen:

In Köln sind 211 der 342 Personen, die ihren Geschlechtseintrag ändern wollen, oder 61,7 Prozent zwischen 18 und 29 Jahre alt (211). 28,9 Prozent (99 Personen) sind zwischen 30 und 49 Jahre alt. 17 Personen (5 Prozent) sind älter als 50 Jahre. Immerhin 10 Personen (2,9 Prozent) sind Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren und fünf (1,5 Prozent) sind Kinder bis 13 Jahre.

In Erlangen sind 32 der 41 Personen, die den Geschlechtseintrag ändern wollen, zwischen 18 und 29 Jahren. Fünf sind zwischen 30 und 49 Jahren und eine Person 50 oder älter. Minderjährig sind 3 Personen, alle zwischen 14 und 17 Jahren.

Nürnberg hatte Informationen über die favorisierten Geschlechtseinträge. Danach wollen von den 130 Anmeldungen 54 einen männlichen und 42 einen weiblichen Geschlechtseintrag. 21 möchten künftig den Geschlechtseintrag divers führen und 13 ihn ganz streichen lassen.

In einem Workshop zum SBGG für Kommunen, den ich durchgeführt habe, berichteten Teilnehmer*innen aus kleinen Kommunen, dass es bei ihnen einige wenige Anmeldungen gebe. Der Spiegel berechnet in seiner Hochrechnung für ländliche Gebiete 0,9 Anmeldungen pro 10.000 Einwohner*innen, in Städten 2,5. Als bundesweiten Durchschnitt schätzt der Spiegel 1,8 Anmeldungen pro 10.000 Einwohner*innen (Stand August 2024).

Warum wurde das Selbstbestimmungsgesetz gemacht?

Das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG), das am 1. November 2024 in Kraft tritt, löst das Transsexuellengesetz (TSG) ab. Auch das Verfahren nach Personenstandsrecht § 45 b wird dadurch überflüssig.

Das TSG war für die Verhältnisse von 1980 ein modernes Gesetz, ermöglichte es transsexuellen Menschen erstmals, ihr rechtliches Geschlecht ändern zu dürfen. Es gab eine kleine (Namensänderung) und eine große (Namen und Geschlechtseintrag ändern) Lösung. Die große Lösung war geknüpft an viele Voraussetzungen (Scheidung, Unfruchtbarkeit, Genital-OP). Diese Voraussetzungen stufte das Bundesverfassungsgericht nach und nach als verfassungswidrig ein. Spätestens seit 2011 waren vom TSG nur noch Bruchstücke übrig und der Erneuerungs- und Reformbedarf enorm. Trotzdem scheiterten diverse Regierungen daran, das TSG zu modernisieren und sich auf neue Regeln zu einigen.

Geblieben waren im TSG-Verfahren zwei psychiatrische Gutachten sowie ein Amtsgerichtsverfahren. Die Begutachtung wurde vom Bundesverfassungsgericht allerdings ausdrücklich als verfassungskonform bestätigt. Gleichwohl ist das alte TSG-Verfahren nicht auf dem Stand der Forschung, die Begutachtungen mit teilweise merkwüdigen und stereotypen Fragen stehen in der Kritik. Das Verfahren über zwei selbst zu zahlende Gutachten und ein Amtsgerichtsverfahren ist langwierig und teuer. Etwa 2.000 Euro mussten Betroffene dafür locker machen.

Das Verfahren nach PStG Paragraf 45b gibt es seit 2019. Es wurde im Rahmen des neuen Geschlechtseintrags „divers“ für intergeschlechtliche Menschen geschaffen. Interpersonen benötigten bislang ein Attest von der Ärzt*in, welches ihre Intergeschlechtlichkeit bestätigt und konnten damit zum Standesamt gehen und ihren Geschlechtseintrag ohne Wartezeit ändern.

Die Möglichkeit, nur den Vornamen zu ändern, wie es sie im TSG gab, gibt es nicht mehr. Dabei könnte eine Vornamensänderung gerade für Minderjährige eine gute Entlastung bieten, ohne dass gleich der Geschlechtseintrag infrage gestellt werden muss. Auch gendernonkonforme Menschen, die keine Geschlechtsdysphorie haben und ihren rechtlichen Geschlechtseintrag gar nicht ändern möchten, aber einen geschlechts-unspezifischen Namen wünschen, wäre mit der reinen Namensänderung mehr geholfen.

Das SBGG hat allerdings nicht das TSG reformiert und modernisiert, sondern gleich sämtliche Voraussetzungen oder Hürden für eine Änderung des Geschlechtseintrags gestrichen. Gleichzeitig wurden positive Aspekte aus den vorherigen Verfahren gestrichten.

Geschlechtssymbole für männlich, weiblich, inter mit Kreide auf Boden gemalt, zwei Chucks ragen von unten ins Bild und stehen vor diesen Symbolen. Rechts und Links Lebkuchenmenschlein. www.gespraechswert.de

Auch für Interpersonen bietet das SBGG Verschlechterungen zu vorher. Konnten sie vorher mit Attest ihren Eintrag mit sofortiger Wirkung ändern, müssen sie jetzt nach der Anmeldung drei Monate warten.

Dafür kann jetzt jede Person zum Standesamt gehen und wird binnen dreier Monate vom Ulli zur Ulli oder vom Peter zur Petra. Ärztliche Atteste, Diagnosen, Beratungen, Begutachtungen oder andere Prüfungen sind nicht vorgesehen.

Was wird am Selbstbestimmungsgesetz kritisiert?

Damit sind wir bei einem Hauptkritikpunkt am SBGG. Da keinerlei Überprüfung vorgesehen ist, ob die Person, die ihren Geschlechtseintrag ändern möchte, tatsächlich zum gemeinten Betroffenenkreis zählt, kann das Gesetz von allen genutzt werden, die sich davon einen Vorteil versprechen.

Die Motive können dabei sehr unterschiedlich sein. In der Schweiz etwa wollte ein Senior in der Rente bessergestellt sein und änderte dafür seinen Geschlechtseintrag. Ein junger Mann wollte damit die Wehrpflicht vermeiden. In Spanien änderte gleich eine ganze Gruppe von Beamten in Polizei und Militär den rechtlichen Geschlechtseintrag in weiblich, weil damit mehr Gehalt und bessere Beförderungsaussichten verbunden sind.

Eine Gruppe taucht in allen Ländern als besonders bedrohlich auf: Gewalt- und Sexualstraftäter. Im weltweiten WHO-Diagnoseschlüssel gibt es auch die Kategorie F65 Störungen der Sexualpräferenz (ICD-10) beziehungsweise Paraphilien (ICD-11). Dazu gehören diverse Fetische, Voyeurismus, Exhibitionismus oder Pädophilie. Dieser Personenkreis hat nichts mit Transsexualismus (ICD-10) oder Geschlechtsinkongruenz (ICD-11) zu tun, mischt sich aber unter den weit geöffneten Trans-Umbrella, bei dem es keine klare Definition mehr gibt, wer trans ist, weil die Selbstaussage nicht kritisiert werden darf.

Strafverteidiger Udo Vetter machte bereits 2022 in einem Interview mit der NZZ darauf aufmerksam, dass eine Self-ID ohne Zugangskontrolle einen realen Reiz auf diese Personengruppen ausübe. International gibt es mehrere Aufsehen erregende Fälle, in denen sich Sexualstraftäter während des Prozesses oder im Gefängnis als „trans“ outen und Zugang zu weiblichen Räumen begehren.

Weitere Kritikpunkte richten sich an die Missachtung von Frauenrechten, LGB-Rechten, einen mangelnden Kinder- und Jugendschutz sowie Einschränkungen der Elternrechte, Konflikte mit Religionsfreiheit und dem Recht auf freie Meinungsäußerung.

Ein anderer Kritikbereich hat indirekt mit dem SBGG zu tun. Es geht um die Befürchtung, dass Minderjährige voreilig in Richtung medizinische Transition gelotst werden. Medizinische Maßnahmen werden im SBGG ausdrücklich nicht geregelt. Dennoch wirkt sich eine Änderung von Namen und rechtlichem Geschlechtseintrag natürlich auf die Betroffenen aus und kann entsprechend Begehrlichkeiten fördern, den Körper auch medizinisch dem Eintrag anzupassen, um vom Umfeld so wahrgenommen zu werden, wie es der Selbstwahrnehmung entspricht.

In diesem Blogbeitrag rezensiere ich zwei Bücher aus unterschiedlichen Blickwinkeln zum Thema Transgender und Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen und ergänze laufend aktuelle Studien und Entwicklungen.

Wer kritisiert das Selbstbestimmungsgesetz?

Zu den lautesten Kritiker*innen von Self-ID-Gesetzen weltweit zählen Frauen, Homosexuelle und ein Teil der Transpersonen selbst. Aber ihre Stimmen werden kaum gehört oder sie werden direkt als „feindlich“ geframt.

Bereits bei der Vorstellung des Referentenentwurfs 2023 gingen mehr als hundert Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf ein und kritisierten ihn laut. Einen Überblick zu den Reaktionen unterschiedlicher Gruppen auf den SBGG-Entwurf liefert dieser Blogbeitrag.

Im Sommer 2024 schrieb die UN-Sonderberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen und Mädchen, Reem Alsalem, an die Bundesregierung. In einem Brief an Bundesaußenministerin Annalena Baerbock warnt Alsalem vor Menschenrechtsverletzungen bei Frauen und Mädchen mit Inkrafttreten des Gesetzes im November 2024. Reem Alsalem findet deutliche Worte:

„Das Gesetz zur geschlechtlichen Selbstbestimmung scheint die spezifischen Bedürfnisse von Frauen und Mädchen in all ihrer Vielfalt nicht ausreichend zu berücksichtigen, insbesondere die derjenigen, die männlicher Gewalt ausgesetzt sind oder Opfer männlicher Gewalt geworden sind.“ Es sehe keine Schutzmaßnahmen vor, die sicherstellten, dass das Gesetz „nicht von Sexualstraftätern und anderen Gewalttätern missbraucht“ werden könne.“

Anna Kröning: Brief an Baerbock – UN-Sonderberichterstatterin kritisiert Selbstbestimmungsgesetz

Anna Kröning paraphrasiert weiter aus Alsalems Brief

„Die UN-Berichterstatterin verweist auch auf die – bereits bekannt gewordenen – Probleme bei der Auslegung des Hausrechts. Denn es gehe nicht auf die damit verbundenen spezifischen Probleme ein. Man könne das Selbstbestimmungsgesetz so verstehen, dass jeder mit seinem im Personenstandsregister eingetragenen Geschlecht Zugang zu bestimmten Räumen verlangen könne. Wer sich als Frau identifiziere, könne demnach Toiletten oder Umkleidekabinen von Mädchen und Frauen betreten, kritisierte sie. Hier nennt sie explizit Fälle von Frauen, die bereits jetzt in Deutschland berichtet hätten, in Damentoiletten von Fitnessstudios auf Männer gestoßen zu sein.“

Anna Kröning: Brief an Baerbock – UN-Sonderberichterstatterin kritisiert Selbstbestimmungsgesetz

Die Bundesregierung reagierte nur sehr knapp auf dieses Schreiben und stritt einfach ab, dass die Bedenken Alsalems berechtigt seien. Das passt ins Bild der letzten Jahre. Eine offene Debatte über die berechtigten Wünsche, Sorgen, Interessen aller beteiligten Gruppen auf der Grundlage von Zuhören, Fakten, Forschung, Evidenz wird verweigert: Queer-Beauftragter Sven Lehmann, Familienministerin Lisa Paus und Justizminister Marco Buschmann lehnten im Vorfeld der Gesetzgebung eine sachgerechte Rechtsfolgenabschätzung ab, wischten geäußerte Kritik als unbegründet weg oder framten sie gar als „feindlich“ oder „rechtes Narrativ“. Das entspricht nicht dem, was ich mir unter Demokratie und Vielfalt vorstelle.

Rechtspopulistische und radikalreligiöse Gruppen wissen das Thema freilich zu nutzen, docken an vernünftigen und berechtigten Kritiken an und laden diese mit ihren ideologischen Narrativen auf. Auf der anderen Seite framen radikal queer-aktivistische Kreise jede noch so sachliche Kritik als „transfeindlich“ oder „rechts“ und erlauben zwischen schwarz oder weiß, Freund oder Feind keine Farbe, keinen Grauton Differenzierung.

Damit werden die Grenzen nach rechts verwischt und das hilft den Rechtsaußen. Nur weil Alice Weidel gerne Brötchen isst, sind weder die Brötchen rechts noch die Bäckerin, bei der sie diese einkauft. Und wenn Beatrice Storch zwischen all dem rechtspopulistischen und in Teilen gefährlichen Schmarrn eine wahre Aussage tätigt, wird die Aussage nicht falsch, weil sie von der Falschen kommt.

In diesem Artikel beschreibt Transmann Till Randolf Amelung, welche anti-demokratischen und wissenschaftsfeindlichen Züge die Radikalisierung und Polarisierung inzwischen angenommen hat.

Wir müssen dringend zurück zu einer demokratischen Sachdebatte, in der Argumente zählen. Ich halte diese Debattenverweigerung und das Ausblenden und Leugnen realer Probleme für eine sehr toxische und gefährliche Mischung.

Gibt es Missbrauch mit Self-ID?

Auch wenn Sven Lehmann hartnäckig etwas anderes behauptet, ganz klar: Natürlich gibt es Missbrauch mit Self-ID. So wie jede Gesetzeslücke ausgenutzt und missbraucht wird, werden auch Self-ID-Gesetze und andere Regelungen zur Nutzung geschlechtsspezifischer Rechte und Räume missbraucht.

In Spanien, wo es seit Anfang 2023 eine Self-ID gibt, häufen sich die Missbrauchsfälle. Da ändern Männer den Geschlechtseintrag in weiblich, weil sie sich mehr Geld und bessere berufliche Chancen versprechen (Ceuta). Gewalttäter wollen auf diese Weise Zugang zu ihren ins Frauenhaus geflüchteten Ex-Frauen oder sie wollen vermeiden, dass ihre Übergriffe nach dem strengeren Gesetz wegen sexualisierter Gewalt bestraft werden (Madrid, La Coruña).

In Großbritannien gibt es zwar keine Self-ID, aber einen starken Druck und viele Regeln, wonach geäußerte Geschlechts-Identitäten anzuerkennen sind. Mit fatalen Folgen für die Sicherheit von Frauen und Mädchen. Beispielhaft zitiere ich den Fall eines schottischen Rape Crisis Center. Dieser wurde von einer Transfrau geleitet, die von Vergewaltigung betroffenen Frauen eine Beratung durch Personen gleichen biologischen Geschlechts verweigerte. Eine Mitarbeiterin, die Kritik übte, wurde entlassen. Inzwischen hat die Mitarbeiterin vor Gericht Recht bekommen und die Transfrau musste ihren Posten räumen. Ihr wird unter anderem vorgeworfen, sie habe Überlebende von sexueller Gewalt retraumatisiert.

In Deutschland werden wir sehen, welche Gesetze und Regeln hierzulande wie stark ausgenutzt werden. Bereits vor Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetzes zeigen sich Konflikte, die mit Inkrafttreten des SBGG eher verschärft werden:

  1. Ein biologischer Mann ohne Geschlechtsangleichung, der sich als Transfrau identifiziert, begehrt Zugang zu Frauenfitness-Studio in Erlangen. Die gleiche Person spielt in der Frauen-Fußballmannschaft.
  2. Eine Transfrau in Berlin verklagt Mc Donalds, weil sie sich unbedingt in der Frauenumkleide umziehen möchte, eine muslimische Kollegin das aber nicht will.
  3. Eine Krankenpflegekraft beschwert sich bei ihrer Arbeitgeberin, dass Kolleginnen sie als Mann wahrnehmen und sich nicht mit ihr umziehen möchten. In der Konsequenz sollen Frauen, die sich daran stören, woanders umziehen.
  4. In Bonn verhandelt das Gericht den Fall eines Exhibitionisten, der zum Zeitpunkt der Tat rechtlich als Frau eingetragen war. Und stellt die Frage, ob dieser Paragraf auf eine Person mit männlichen Organen und weiblichem Geschlechtseintrag anwendbar ist.

Letztendlich werden Gerichte entscheiden, was im Einzelfall wie auszulegen ist.

Das ist ein weiterer Kritikpunkt am SBGG: Statt einen gesetzlichen Rahmen vorzugeben, der eine friedliche Koexistenz unterschiedlicher Lebensformen moderiert und fördert, werden Rechtsunsicherheiten erzeugt, Konfliktlinien verschärft und das Aushandeln von Lösungen der Gesellschaft, den Unternehmen, Einzelpersonen und Gerichten überlassen.

Das bietet viel Raum für Eskalation und Polarisierung, also das, was Transpersonen, die einfach nur in Frieden leben wollen, am wenigsten gebrauchen können. Insofern halte ich das SBGG in seiner Wirkung für transfeindlich. Gesellschaftliche Akzeptanz ist das A und O, damit Trans- und Interpersonen frei leben können. Die kann aber kein Gesetz der Welt erzwingen.

Wen betrifft das Selbstbestimmungsgesetz?

Den Geschlechtseintrag ändert freilich nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung. Und die wenigsten, die das tun, verfolgen böse Absichten. Ganz im Gegenteil: Die meisten leiden und erhoffen sich durch die Änderung des Geschlechtseintrags mehr Anerkennung und eine Verbesserung ihrer Situation.

Aber wie bereits oben skizziert, hat die Änderung des Geschlechtseintrags Auswirkungen auf unbeteiligte Dritte. Nämlich überall dort, wo das Geschlecht in den Regeln, Rechten und Räumen eine Rolle spielt. Und das sind viele.

Unser ganzes Gesellschaftssystem ist geschlechtsspezifisch organisiert. Wir teilen uns Räume aufgrund des Geschlechts (Toiletten, Umkleiden, Duschen), wir trennen in vielen Sportarten nach Geschlecht, haben Frauenquoten zur Förderung der Gleichstellung der Frauen. Im Sicherheitskontext werden wir von Menschen gleichen Geschlechts abgetastet oder wünschen uns im Gesundheitskontext eine geschlechtsspezifische Pflege. Schließlich legen insbesondere weibliche Gewaltopfer oft Wert darauf, mit einer Frau zu sprechen. Und in Gefängnissen müssen die Inhaftierten ihre Zelle, das heißt ihren Schlafplatz mit einer Person teilen. Außerdem messen wir statistische Daten, Sicherheitsrisiken, Gesundheitsverhalten und andere Verhaltensmuster nach Geschlecht und machen damit Politik.

Damit es zum Konflikt kommt, muss keinerlei böse Absicht vorliegen. Es genügt, dass unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen aufeinanderprallen, wie bei McDonalds in Berlin. Die Transfrau zog sich bei den Frauen um. Die sagten nichts. Bis sie eines Tages Schicht mit einer Muslima hatte. Die Frau hatte kein Problem mit der Transfrau zusammenzuarbeiten. Aber sich mit ihr in einem Raum umzuziehen, war für sie unzumutbar.

Wenn also der rechtliche Geschlechtseintrag allein auf Selbstaussage beruht und vom biologischen Geschlecht abgekoppelt wird, hat das Auswirkungen auf all diese Fragen und Themen. Und die haben wir als Gesellschaft bisher noch überhaupt nicht verhandelt. Das sollten wir nachholen und die Debatte aus den extremen Polarisierungen in die Mitte der demokratischen Debatte holen.

Wie können wir ein friedliches Miteinander in aller Vielfalt organisieren?

Bleibt die Frage: Wie kommen wir raus aus diesem Schlamassel?

Im ersten Schritt sollten wir also die Debatte nicht den Ideolog*innen überlassen, ganz egal ob sie aus dem rechts-identären oder links-identitäspolitischen Lehrbuch sprechen. Das heißt: zuhören, nachfragen, recherchieren, neugierig bleiben, nicht nur an der Oberfläche emotionale Schlagzeilen produzieren oder voreilig Partei ergreifen, sondern eintauchen und den Dingen auf den Grund gehen.

Wir sollten unser Gegenüber als Mensch begreifen, nicht als Kategorie. Wir sollten Raum lassen, dass wir unterschiedliche Meinungen haben. Wir sehen die Welt mit anderen Augen, stehen in anderen Schuhen und haben dadurch unterschiedliche Perspektiven. Das ist ein Teil von Vielfalt.

Und wir sollten nicht nur uns und unsere Bedürfnisse sehen. Die sind selbstredend wichtig. Die anderer Menschen aber auch. In einer offenen demokratischen Gesellschaft müssen wir Lösungen aushandeln, die widersprüchliche Interessen berücksichtigen.

Im nächsten Schritt sollte die Gesetzgeberin das SBGG so anpassen, dass eine friedliche Ko-Existenz zwischen den unterschiedlichen Lebensformuen und Gruppen moderiert und gefördert wird. Noch kann es passieren, dass ein Bundesland, der Bundestag oder der Bundesrat ein Normenkontrollverfahren anstrengt. Dann müsste das Bundesverfassungsgericht prüfen, ob das SBGG verfassungskonform ist. An der Verfassungsmäßigkeit des SBGG haben einige Jurist*innen berechtigte Zweifel. Dass das SBGG früher oder später vor dem Verfassungsgericht landet, ist sogar sehr wahrscheinlich.

Bis dahin wünsche ich mir, dass die Vernünftigen das Ruder in die Hand nehmen und um Lösungen ringen, die allen Beteiligten gerecht werden.

Mein Buch „Alle(s) Gender“ befasst sich ausführlich mit Geschlecht, Gender, Stereotypen, Patriachat und geschlechtsspezifischen Rechten.

Quellen und weiterführende Infos

Anna Kröning. Schutz von Frauen – Brief an Baerbock – UN-Sonderberichterstatterin kritisiert Selbstbestimmungsgesetz, Welt, 13. August 2024, https://www.welt.de/politik/deutschland/article252966862/Brief-an-Baerbock-UN-Sonderberichterstatterin-kritisiert-Selbstbestimmungsgesetz.html

Anna Kröning: Das Fitnessstudio, der biologische Mann und der Brief der Antidiskriminierungs-Stelle, Welt, 6. Juni 2024, https://www.welt.de/politik/deutschland/plus251853878/Ladys-First-Das-Fitnessstudio-und-der-Brief-der-Antidiskriminierungsstelle.html

Beatrice Achterberg: Strafverteidiger Udo Vetter: «Der Staat eröffnet mit diesem Gesetz auch Exhibitionisten die Möglichkeit, sich ganz legal Zutritt zu Schutzräumen für Frauen zu verschaffen», NZZ, 18. August 2022, https://www.nzz.ch/feuilleton/selbstbestimmungsgesetz-anwalt-udo-vetter-kritisiert-buschmann-ld.1698036

Bundesgesetzblatt: Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften, BGBl. 2024 I Nr. 206 vom 21.06.2024, https://www.recht.bund.de/bgbl/1/2024/206/VO.html

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: ICD 11: Entwurfsfassung, https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html

Bundesministerium für Gesundheit, ICD-Codesuche, F65: https://gesund.bund.de/icd-code-suche/f65, F64 https://gesund.bund.de/icd-code-suche/f64

Bundesverband Trans e.V.: Bestehende Kritik am Selbstbestimmungsgesetz, https://sbgg.info/kritik/

Chantalle El Helou: Dyke* March Berlin 2024 – Lesbische Sichtbarkeit unerwünscht, Initiative Queer Nations, 30. Juli 2024, https://queernations.de/dyke-march-berlin-2024-lesbische-sichtbarkeit-unerwunscht/

Der Standard: Gewalttäter missbrauchen immer wieder spanisches Transgendergesetz, 23. August 2024, https://www.derstandard.at/story/3000000233683/gewalttaeter-missbrauchen-immer-wieder-spanisches-transgendergesetz

Dr. Max Kolter: Frauenfitnessstudio lässt Transfrau nicht mittrainieren, lto, 30. Mai 2024, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/frauen-fitnessstudio-trans-frau-mann-duschen-agg-bmj-sebstbestimmungsgesetz-ataman

Emma: „Innerlich eine lesbische Frau“, 18. März 2024, aktualisiert 17. Juni 2024, https://www.emma.de/artikel/innerlich-lesbische-frau-340947

Leif Kubik: Frage der Geschlechtsidentität 56-jährige Frau aus Troisdorf wegen Exhibitionismus angeklagt, General-Anzeiger, 18. September 2024, https://ga.de/region/sieg-und-rhein/troisdorf/troisdorf-56-jaehrige-frau-wegen-exhibitionismus-angeklagt_aid-119086747

Libby Brooks: Edinburgh Rape Crisis Centre boss resigns after review finds ‘damage’ to survivors, The Guardian, 13. September 2024, https://www.theguardian.com/uk-news/2024/sep/13/edinburgh-rape-crisis-centre-boss-resigns-review

Patrick Illinger: Spanien – Erst Macho, plötzlich Frau, Süddeutsche Zeitung, 26. August 2024, https://www.sueddeutsche.de/politik/spanien-geschlecht-aenderung-gewalt-frauen-lux.YAh2Ua1pGMGwXLeqTQ6eXS

Paula Haase, Philipp Kollenbroich und Katherine Rydlink: Begehrter als erwartet, Spiegel, 13. September 2024, https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/selbstbestimmungsgesetz-begehrter-als-erwartet-a-1df7e55a-cb6d-4bf0-88fc-63c858dd4ffb

Schwulissimo: Juristen kritisieren Self-ID „Hier wird ein derartiges Missbrauchspotenzial präsentiert, da kann man sich nur an den Kopf fassen.“, 19. August 2022, https://schwulissimo.de/neuigkeiten/juristen-kritisieren-self-id-das-neue-gesetz-schaffe-freiraeume-fuer-exhibitionisten

Severin Carrell: Edinburgh rape crisis worker wins tribunal over gender critical views, The Guardian, 20. Mai 2024, https://www.theguardian.com/uk-news/article/2024/may/20/edinburgh-crisis-worker-wins-tribunal-over-gender-critical-views

Sigi Lieb: „Alle(s) Gender. Wie kommt das Geschlecht in den Kopf?, März 2023, Querverlag

Sigi Lieb: „In oder out: Wer ist wir, wer queer und wer gehört nicht dazu?“, in: Jahrbuch Sexualitäten 2024, Juli 2024, Wallstein

Sophie-Marie Schulz: Transfrau verklagt McDonald’s: Muslimische Mitarbeiterin weigert sich, Umkleide zu teilen, Berliner Zeitung, 25. Juni 2024, aktualisiert am 27. Juni 2024, https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/transfrau-aus-berlin-verklagt-mcdonalds-mitarbeiterin-weigert-sich-umkleide-zu-teilen-li.2228348

Tibor Martini: Großbritannien Aufregung um Transfrau: Vergewaltiger peinigt zwei Frauen und möchte in Frauengefängnis landen, Stern, 26. Januar 2023, https://www.stern.de/panorama/grossbritannien–vergewaltiger-will-als-transfrau-im-frauengefaengnis-einsitzen-33139626.html

Till Randolf Amelung: Fitnessstudio für Frauen hat Rechtsstreit mit Transperson, Initiative Queer Nations, 2. Juni 2024, https://queernations.de/fitnessstudio-fuer-frauen-hat-rechtsstreit-mit-transperson/

Till Randolf Amelung: Self-ID ist ein Fehler. Der Bundestag stimmt am Freitag über das Selbstbestimmungsgesetz ab, Initiative Queer Nations, 12. April 2024, https://queernations.de/self-id-ist-ein-fehler/

Till Randolf Amelung: Offene Briefe und Heuschrecken gegen Evidenz. Transaktivisten unterdrücken Debatte um Pubertätsblocker, Initiative Queer Nations, 13. Oktober 2024, https://queernations.de/offene-briefe-und-heuschrecken-gegen-evidenz/

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