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Besser kommunizieren in einer diversen und digitalen Welt
Training. Beratung. Text.

Wie viel Change kann ein Mensch vertragen?

Ab welcher Change-Dosis wird der Mensch krank? Was bedeutet das für Unternehmen? Wo ist der Weg raus aus der Gefahrenzone? Der Buchtitel „Change mich am Arsch“ klingt brachial, der Untertitel „Wie Unternehmen ihre Mitarbeiter und sich selbst kaputtverändern“ macht die Ankündigung nicht weniger negativ. Wandel ist doch wichtig?! Richtig, aber… Ich habe das Buch von Axel Koch gelesen und erzähle euch, was euch erwartet.

Rezension Change | psychische Gesundheit | Resilienz Bücher und Rezensionen, Resilienz und Empowerment

 Unternehmen unter Change-Druck

Ganz so negativ, wie es der Buchtitel erwarten lässt, ist das Buch nicht. Natürlich müssen Unternehmen sich verändern und Menschen sich an diese Entwicklungen anpassen. Wandel war immer und ist immer. Ein gewisser Leidensdruck hilft der Motivation auf die Sprünge und weist den inneren Schweinehund in seine Grenzen. Zu viel Wandel aber schadet dem Menschen und dem Unternehmen.

Menge und Geschwindigkeit, mit der sich Unternehmen und die darin arbeitenden Menschen verändern sollen, haben stark zugenommen. Insbesondere die Digitalisierung ist ein starker Treiber für Change. Aber auch Globalisierung, Klimawandel und Demografie haben erhebliche Einflüsse auf die Bedingungen für Unternehmen in den Märkten und damit auf ihre Anpassungsnotwendigkeit. Wobei keiner so genau weiß, wohin die Reise geht. Im Management-Sprech gibt es dafür sogar eine eigene Vokabel: VUCA – steht für Volatility (Unbeständigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit).

Change als Profilierungsmethode und Verkaufsargument

Weniger notwendig, aber Realität, ist der Change, der mit der häufiger gewordenen Neubesetzung von Chefsesseln einhergeht. Jede*r neue Chef*in möchte eine eigene Markierung hinterlassen, etwas bewegen. Und so dreht der eine das Rädchen nach rechts, die Nachfolgerin dann wieder nach links, der nächste Nachfolger dreht das Rädchen um, die nächste will kein Rädchen sondern einen Reifen und so weiter….

Die Beraterbranche mischt hier fleißig mit und verkauft immer neue Konzepte als Lösung: Digital Leadership, Agile Führung, Führungskraft 4.0, Unbossing. Auf Projekt- und Teamebene ist es genauso: Scrum, Kanban, Working-out-Loud …bis die Mitarbeitenden ermüden, die Veränderungen weder ernst nehmen noch Sinn darin erkennen. Und ohne Sinn keine Motivation. Ohne Motivation kein Erfolg.

Recherche kostet Zeit

Ich investiere viel Arbeitszeit in meine Blogbeiträge, beachte journalistische Kriterien und stelle viel weiterführende Information zur Verfügung. Das alles stelle ich kostenlos für alle zur Verfügung – ohne bezahlte Werbung auf meiner Seite. Aber natürlich muss auch ich im Supermarkt mit Euros bezahlen. Daher freue ich mich, wenn du meine ehrenamtliche redaktionelle Arbeit unterstützt.

Koch setzt sich kritisch mit den neuen Modellen demokratischer Führung auseinander und zeigt Möglichkeiten und Grenzen. Er beschreibt den realen Veränderungsdruck vor allen Dingen mit der Perspektive, wie Menschen auf diese dauernden Change-Anforderungen reagieren. Dafür lässt er zahlreiche Change-Betroffene zu Wort kommen und erzählt ihre Geschichte. Die Beispiele sind im Buch als eigene Texte abgesetzt vom sonstigen Fließtext, der darauf Bezug nimmt.

Das Menschenbild im Zeichen des Change

Natürlich müssen sich vielerorts Führungsstil und Zusammenarbeit ändern. Auch müssen manchmal Abteilungen geschlossen, aufgebaut oder neu geordnet werden und Aufgaben für Beschäftigte verändern sich. Personalabteilungen geben sich Mühe, den Mitarbeitenden möglichst gute Weiterbildungsangebote zu machen, damit sie sich entwickeln können und fit machen für das, was kommt. Bisweilen geht dabei aber der Blick für den Menschen als Individuum verloren. Beziehungsweise folgen viele Personalentwicklungsprogramme einem Menschenbild, wonach sich der Mensch beliebig anpassen und verändern kann, wenn der nur will und genügend Möglichkeiten dazu bekommt. Koch nennt es „das Baumarkt-Prinzip“ – was nicht passt, wird passend gemacht. Das Problem nur: So ist der Mensch nicht.

Das Gehirn und der Change

Natürlich gibt es Menschen, die Abwechslung mögen und die Veränderungen gegenüber besonders aufgeschlossen sind. Und es gibt solche, die gerne bei dem bleiben, was sie schon kennen. Oft ist jede*r von uns eine Mischung aus beidem, je nachdem um welche Veränderung es sich handelt und was er oder sie sich davon verspricht.

Aber auch der veränderungsfreundlichste und innovativste Mitarbeitende hat ein menschliches Gehirn. Und das menschliche Gehirn ist ein Gewohnheitstier und streng auf Effizienz gepolt. Gewohntes verbraucht sehr viel weniger Energie als Neues. Unser Gehirn ist ein Wunderding der Verallgemeinerung. Es bündelt, fasst zusammen, sucht nach Synergien und baut für die Dinge, die es oft benötigt, ganze Datenautobahnen im Kopf. Um auf neuen Wegen gehen zu können, brauchen wir neue Pfade, die erschlossen und als Straße ausgebaut werden müssen. Das braucht Zeit und Übung. Wenn das nicht eingeplant wird, passiert das, was Sie als Leser*in bestimmt auch schon erlebt haben. Koch beschreibt es so:

„Und weil die Veränderung eigener Denk- und Verhaltensmuster so schwer ist, kann es sein, dass zwar künftig im Leitbild Ihrer Firma in schönsten Formen und Farben Ihre innovative Führungskultur gepriesen wird – aber hinter den Gardinen ‚business as usual‘ herrscht.“

Folgen von zu viel Change für Mensch und Unternehmen

Wenn das Gehirn zu viele Baustellen auf einmal bewältigen muss, kommt es nicht mehr hinterher. Es hat Stress und sagt irgendwann „Tilt“, wie früher der Flipper, wenn man zu heftig daran gerüttelt hat. Menschen kündigen oder werden krank. Koch zitiert eine Studie, wonach die Fluktuation mit dem Tempo und Menge an Change steigt. Und Fluktuation kostet Geld. Aber ein Großteil der Beschäftigten harrt aus. Ist das besser? Koch führt die Daten der Krankenkassen an: Im Gesundheitsbericht 2017 der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) waren psychische Erkrankungen erstmals die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen. Die AOK nennt in ihrem Fehlzeitenreport 2016 Erschöpfung als zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit. Bei Frühberentungen sind psychische Erkrankungen die Nummer 1: Ein trauriger erster Platz, finde ich. Zudem wegen des demografischen Wandels immer weniger nachwachsende junge Leute das Geld für all die Kranken, Arbeitsunfähigen und Berenteten verdienen müssen. Am Ende sägen Unternehmen also an ihrer eigenen Wettbewerbsfähigkeit, wenn sie das Change-Karussell nicht bändigen: Sie müssen dem Change Sinn geben, den Menschen Zeit und das Ganze richtig dosieren.

Sie müssen dem Change Sinn geben, den Menschen Zeit und das Ganze richtig dosieren. Share on X

Wohl und Wehe des Leidensdrucks

Veränderung passiert. Und natürlich müssen wir uns immer wieder an neue Erfordernisse und Situationen anpassen. Ebenso gibt es Veränderungen, die uns leichter fallen und solche, mit denen wir uns aus unterschiedlichsten Gründen schwer tun.

Jede*r von uns, der oder die schon mal mit dem Rauchen aufhören, mehr Sport machen, abnehmen und so weiter wollte, weiß, wie viele selbst angestoßene, also freiwillige und gewollte Veränderungsprojekte im Sand verlaufen. Der innere Schweinehund – ein anderes Wort für alte Muster und Gewohnheiten – hält uns zurück.

So funktionieren auch die neuen Lernformate mit immer verfügbaren Bildungshappen nur begrenzt. Im Alltag fehlt uns die Zeit, die Muse, die Geduld und wir verschieben es auf später. Wir lernen spielerisch nebenher, indem wir etwas gerne tun und einüben. Aber während der Arbeitszeit schnell einen Lernhappen einwerfen? Das ist ein bisschen wie der Schokoriegel in der Schublade, statt eines vernünftigen Essens, für das ich mir Zeit nehme. Und für die besonders motivierten Leute verdichtet sich die Arbeit weiter und sie laufen Gefahr, auch noch die letzten Erholungsphasen, die unser Gehirn braucht, mit Input zu füllen.

Während der Arbeitszeit schnell einen Lernhappen einwerfen ist ein bisschen wie der Schokoriegel in der Schublade, statt eines vernünftigen Essens. Share on X

Hör die Signale: Bist du auf dem richtigen Weg?

Unser Gehirn ist zu herausragenden Anpassungsleistungen fähig, wenn es sich mit Begeisterung auf das Neue stürzt. Und es besitzt eine enorme Reaktanz, wenn es nicht will. Ein Seismograph hierfür sind die eigenen Werte, Einstellungen und Talente. Wenn man versucht, gegen sie zu entwickeln, wird das nicht oder zumindest nicht gut oder gesund funktionieren. Aus einem Bussard macht man durch Weiterbildung keine Schwalbe, keine Gans und keine Lerche. Trotzdem wird es versucht. Und es geschieht häufig in allerbester Absicht.

„Da wird also in guter Absicht an Menschen gewerkelt, um sie für anstehende Aufgaben und Herausforderungen fit zu machen und so den Unternehmenserfolg zu sichern. Dabei schwingt stets auch mit, dass persönliche Entwicklung etwas Gutes ist. (…) Doch der Grat zwischen Baumarkt-Prinzip und Potentialausschöpfung ist schmal. Wo fängt die Grenzüberschreitung an, bei der ein Mensch so lange wie ein grober Klotz auf der Werkbank zurechtgeschliffen und angepasst wird, bis er genauso aussieht und funktioniert, wie sein Schöpfer es will?“

Der Rat, den Koch an die Betroffenen gibt: Lass dich nicht verbiegen. Horche auf deinen inneren Seismographen. Sei ehrlich mit dir selbst. Gehe strategisch vor.

Opfer- und Gestalter-Modus

Ein wichtiger Faktor, der den Menschen eher gesund erhält oder krank machen kann, ist die Vorstellung von der eigenen Handlungsmacht, der eigenen Wirksamkeit. Koch unterteilt diese innere Haltung in Opfermodus und Gestaltermodus. Dabei ist es völlig normal, sich ab und zu im Opfermodus zu fühlen. Entscheidend ist, wie gut es jemandem gelingt, diesen zu verlassen und das Heft wieder in die Hand zu nehmen.

Tempo und Menge von Change beurteilen

Koch legt ein Modell vor, das er Veränderungsbalance nennt. Es besteht aus zwei Achsen und vier Quadranten. Eine Achse beschreibt das Veränderungstempo, eine andere die Menge der Veränderung. Und in beiden Bereichen gibt es Warnzonen.

Das Gute: Die Grafik erinnert an die BCG-Matrix für das strategische Management und andere zweidimensionale strategische Darstellungen. Sie knüpft also an Bekanntes an und ist so schnell und einfach verständlich.

Der Nachteil: So wie die BCG-Matrix mit den Cash Cows und den Poor Dogs unterkomplex ist, dürfte das auch für das Modell der Veränderungsbalance gelten. Die Wahrheit ist nicht zweidimensional. Aber als Bild dafür, dass zu viel Change auch den motiviertesten, beweglichsten und engagiertesten Mitarbeitenden irgendwann umhaut, ist es gut geeignet.

Kritische Würdigung

Das Buch stellt konsequent den Menschen in den Mittelpunkt. Es beleuchtet sein Sosein als Homo Sapiens mit Frontalhirn, Amygdala, mit Charakter, Werten, Interessen und Privatleben. Und es erklärt, wie Menschen auf Veränderungen reagieren. Das geschieht in einer bildhaften Sprache mit Unterhaltungswert. Mir persönlich sind es manchmal ein bisschen viele kernige Sprüche, aber das ist Geschmackssache. Insgesamt ist es gut lesbar und bietet einen wertvollen Einblick, was der Veränderungsdruck für Menschen und Unternehmen bedeutet.

Der Wermutstropfen ist die aus meiner Sicht etwas indifferente Zielgruppe. „Change mich am Arsch“ richtet sich einerseits an Beschäftigte, aber irgendwie auch an Führungskräfte und Personaler. Das geschieht aber leider nicht in einer klar nachvollziehbaren Logik oder Struktur. Koch springt immer mal von der einen in die andere Perspektive, ohne dass ich als Leserin das vorhersehen und nachvollziehen kann. Das macht es schwer, sich auf eine Perspektive zu fokussieren oder Inhalte später zum Nachlesen wiederzufinden.

Mit etwas mehr Struktur und Ordnung diesbezüglich ließe sich der Nutzen als Ratgeber und Inspiration steigern. Aber vielleicht will das Buch auch gar kein Ratgeber sein. Implizit und an einigen Stellen auch explizit appelliert das Buch an die Chefetagen, Personalabteilungen und Beratungsunternehmen, den Menschen stärker in den Blick zu nehmen. Aber ich hätte mir hier mehr und klarere Botschaften beziehungsweise Handlungstipps gewünscht.

Insgesamt ist „Change mich am Arsch“ lesenswert für jede*n, die oder der in irgendeiner Form mit dem Thema Wandel zu tun hat und verstehen will, warum Menschen sich verhalten wie sie es tun.

Buch und Autor:

Der Autor Axel Koch ist promovierter Psychologie und seit vielen Jahren Personalentwickler und Trainer. Sein Buch „Change mich am Arsch. Wie Unternehmen ihre Mitarbeiter und sich selbst kaputtverändern“ ist erschienen in 2. Auflage 2018 bei Econ, einem Unternehmen der Ullstein-Gruppe, Link: https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/change-mich-am-arsch-9783430202459.html

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